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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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bekommen? Das Leben zieht an uns vorbei, Ben. Und das Leben verzeiht nicht. Man bekommt nichts zurück, wenn man es vergeudet. Man erhält keine
zweite Chance. Wir müssen unser Leben jetzt leben, Ben. Wir haben nur dieses eine.
    Während er im Treppenhaus am Fenster stand und über die Stadt hinwegblickte, ohne sie zu sehen, nagte der Gedanke an ihm, warum er ausgerechnet das vergessen hatte, was ihm offenbar über viele Jahre hinweg sehr wichtig gewesen war. So wichtig, dass Kattrin den Sinn ihrer Ehe infrage gestellt hatte. Und was machte das aus ihm? Wenn ihm der Tod genau das gestohlen hatte, was zentraler Bestandteil seines Lebens gewesen war – was blieb dann von ihm übrig, in dieser neuen, völlig unerwarteten Existenz?
    Wir müssen unser Leben jetzt leben, Ben. Wir haben nur dieses eine.
    »Da hast du dich geirrt, Kattrin«, sagte er leise. »Was wir gehört, gelesen und geglaubt haben … Es stimmt nicht. Offenbar gibt es ein Leben nach dem Tod. Aber es ist ganz anders, als wir dachten.« Befand sie sich irgendwo dort draußen? War sie wie er am Stadtrand erwacht, in der Nähe des Nebels? Oder gar im Nebel, bei den Kreaturen?
    Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, entstand Unruhe in ihm und baute einen Druck auf, der schließlich zu groß wurde und nach dem Ventil von Bewegung verlangte. Abrupt wandte er sich vom Fenster ab, aber anstatt den Weg nach unten fortzusetzen, verließ er das Treppenhaus und wanderte durch einen leeren Flur. Rechts und links standen manche Türen offen, und die Zimmer hinter ihnen waren ebenfalls leer, die Fenster staubig. Dies war der tote Teil des Hospitals, wie Abigale ihn genannt hatte. Die ersten fünf Etagen waren vollkommen leer, abgesehen von der Eingangshalle mit der funktionierenden Uhr: nicht ein
Stuhl oder Tisch, nicht eine Glühbirne oder Leuchtstoffröhre. Nichts außer leeren Wänden — an denen man noch die etwas helleren Stellen sehen konnte, wo früher Bilder gehangen hatten – und schmutzigen Fenstern. Einrichtung und Funktionalität des Hospitals beschränkten sich auf die oberen drei der insgesamt acht Etagen.
    Benjamin hatte fast das Ende des Flurs erreicht und war noch immer tief in Gedanken versunken, als er leise Stimmen hörte, die aus einem der Zimmer kamen. Zwei weitere Schritte brachten ihn nahe genug an die Tür heran, dass er Worte verstehen konnte.
    »Ich war von Anfang an dagegen, Abigale, das weißt du. Die Expedition hat uns nicht geholfen, sondern geschadet. Als ob wir mit Dago und seinen Streunern nicht schon genug Probleme hätten.«
    »Der Supermarkt ist wieder da, die Krise überwunden. Die Toten leben, die Verletzten sind fast geheilt, und es wird ein Austausch stattfinden, der Cobain und Magdalena zu uns zurückbringt.«
    »Wir haben wertvolle Waffen verloren. Und ich würde die fünf Streuner, die wir geschnappt haben, lieber ins Loch werfen, anstatt sie Dago zurückzugeben.«
    Hannibal und Abigale, begriff Benjamin. Er war stehen geblieben, kaum zwei Meter von der geschlossenen Tür entfernt. Licht kam durch das hohe Milchglasfenster am Ende des Flurs, und dort führte eine schmalere Treppe nach oben. Neben ihr sah er, sonderbar scharf und klar, einen runden Abdruck auf dem Linoleumboden, vielleicht von einer verschwundenen Topfpflanze.
    Er wollte sich umdrehen und in die Richtung zurückkehren,
aus der er kam, aber seine Füße bewegten sich nicht. Etwas zwang ihn, das Gespräch zu belauschen.
    »Es sind Menschen wie wir«, sagte Abigale sanft. »Wenn auch fehlgeleitet. Vergebung bringt uns allen Gutes.«
    »Ich wäre der Letzte, der dir da widersprechen würde. Aber ich fürchte, dass wir die Streuner, die wir beim Austausch freilassen, beim nächsten Angriff wiedersehen. Was Petrow betrifft … Ich habe mit ihm gesprochen und meinen Standpunkt verdeutlicht. Er weiß, dass wir nicht nach Lindsay suchen werden. Es wird keine weitere Expedition ins Labyrinth geben.«
    Zwei oder drei Sekunden lang herrschte Stille, und Benjamin dachte schon, das Gespräch sei beendet. Dann ertönte erneut Abigales Stimme.
    »Etwas hat die Mauern eingerissen, Hannibal. Und nicht von dieser Seite. Etwas ist dort unten.«
    »Was auch immer es sein mag: Es wird da unten bleiben und uns in Ruhe lassen, wenn wir unsere Nase nicht in Dinge stecken, die uns nichts angehen.«
    »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.« Abigale klang überrascht und auch verärgert. Benjamin fragte sich, in welchem Verhältnis die beiden Oberhäupter der

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