Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
der Barriere und wollte einen Blick über den Rand in die Tiefe werfen, als es direkt vor ihm knisterte und ein Schatten aus dem Loch kletterte. Er reagierte ohne nachzudenken, wirbelte herum, sprang durch die Öffnung in der Absperrung zurück und lief.

    Benjamin hatte einige Hundert Meter zurückgelegt, als er mitten auf der Straße im Schnee ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Sofort rappelte er sich wieder auf, schnappte nach Luft und spürte das Zittern von Schwäche in den Knien.
Er sah zurück – leer erstreckte sich die weiße Straße und verschwand im fallenden Schnee. Von einem Schatten war weit und breit nichts zu sehen.
    Ein Pfiff erklang, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite traten zwei Gestalten aus einem schattigen Hauseingang. Eine von ihnen erkannte er sofort, obwohl sie die Kleidung gewechselt hatte und jetzt eine gefütterte Windjacke trug: Jasmin, die Streunerin aus dem Supermarkt, Dagos Partnerin, in der Hand eine Armbrust, die sie jedoch nicht auf ihn richtete. Ihr Begleiter war einer der Männer, die Dago beim Austausch auf dem Konkordatsplatz begleitet hatten.
    »Wen haben wir denn da?«, sagte er und grinste.
    Benjamins Knie zitterten noch immer und wiesen ihn darauf hin, dass ein weiterer Sprint über einige Hundert Meter nicht infrage kam. Außerdem wäre er ohnehin nicht schneller gewesen als ein Armbrustpfeil. Er beobachtete Jasmins Waffe und fragte sich, ob sie auf ihn schießen würde. Sie beantwortete die unausgesprochene Frage, indem sie die Armbrust hob.
    »Sei vernünftig«, sagte sie.
    »Ich bin wertlos für euch«, krächzte Benjamin. »Hannibal hat mich rausgeworfen. Ihr könnt mich nicht für einen neuen Austausch verwenden.« Er musste sich irgendwie aus dieser Situation herauswinden, und zwar schnell. Möglicherweise waren Jasmin und ihr grinsender Begleiter nicht allein. Wenn sich weitere Streuner in der Nähe befanden und einer von ihnen den Mann entdeckte, den er erschossen hatte, und wenn man dann auch noch die Pistole bei ihm fand …

    Wie schnell konnte er die Pistole ziehen, die in der Parkatasche steckte? Nicht schnell genug, dachte er, als sein Blick zur Armbrust zurückkehrte.
    Plötzlich verschwand das Grinsen des Mannes, und Jasmin hob erstaunt die Brauen. Fast im gleichen Moment legte sich Benjamin eine Hand auf die Schulter.
    »Er gehört zu mir«, sagte jemand hinter ihm.
    Jasmin ließ sofort die Armbrust sinken. »Oh«, erwiderte sie. »Nichts für ungut, aber wir haben ihn zuerst gesehen.« Sie kam noch einen Schritt näher, blieb dann aber unschlüssig stehen.
    »Wer ihn zuerst gesehen hat, spielt keine Rolle«, sagte die Stimme hinter Benjamin. »Er gehört zu mir. Übrigens … richte Dago aus, dass es heute Vormittag eine Elektrostunde geben wird. Ich habe in der vergangenen Nacht davon geträumt.«
    Jasmins Miene erhellte sich. »Danke für den Hinweis. Dago wird ihn zu schätzen wissen.« Sie winkte und kehrte mit ihrem Begleiter zum dunklen Hauseingang zurück. Am Fenster darüber bewegte sich eine dritte Gestalt, von der vermutlich der Pfiff gekommen war.
    Benjamin drehte sich um und sah einen Greis, gehüllt in einen grünen Lodenmantel, der ihm fast bis zu den Füßen reichte. Das blasse Gesicht war vom Alter zerfurcht, und die wässrigen Augen wirkten fast farblos. Ein Greis, zehn oder fünfzehn Jahre älter als Hannibal. Die Knollennase über dem dünnlippigen Mund war von der Kälte gerötet.
    Der Alte nahm die Hand von Benjamins Schulter und steckte sie schnell in die warme Manteltasche zurück.
    »Du bist Benjamin, nicht wahr? Und du warst mit Louise
verabredet. Du willst mit ihr die Stadt verlassen, habe ich Recht?«
    Benjamin starrte den Alten groß an. Schneeflocken fielen ihm aufs strähnige graue Haar. »Ja, aber …«
    »Du hättest in ihrem Quartier beim Kongresszentrum vergeblich auf sie gewartet«, sagte der Greis. »Louise ist tot.«
    »Was?«
    »Ist das so schwer zu verstehen? Sie ist tot. Es hat sie bei der Bibliothek erwischt.«
    »Aber …« Benjamin suchte nach Worten. »Wer bist du? Und woher weißt du das alles?«
    Der Greis lächelte matt. »Ich bin Laurentius, und ein Apfel hat es mir geflüstert. Komm jetzt. Oder willst du hier festfrieren?«

Laurentius

31
    Es schneite nicht mehr, und eine weiße Decke lag über diesem Teil der stillen Stadt. Ein besondere Klarheit hing in der Luft und hob alle Konturen deutlich hervor. In der Ferne sah Benjamin mehrere dünne Rauchfahnen aufsteigen – irgendwo saßen

Weitere Kostenlose Bücher