Die Stadt - Roman
heißt, sie war es. Wie dem auch sei: Jemand hat die Stadt erbaut, und dieser Jemand …« Laurentius hob den Zeigefinger. »… ist noch immer hier am Werk. Denk nur an die vier neuen Stockwerke des Wolkenkratzers. Oder an die eingesammelten Autowracks. Ich suche nach den Erbauern. Und ich träume für Dagos Streuner, Hannibals Gemeinschaft und auch die Unabhängigen. Darum respektieren mich alle.«
»Und während du träumst, flüstern dir die Äpfel was zu?«
»Eigentlich nicht die Äpfel. Eher die Apfelkerne.«
Lieber Himmel, dachte Benjamin. Kowalski glaubt an Quanten, und dieser agile alte Knacker hört im Schlaf Äpfeln zu, beziehungsweise Apfelkernen. Mühsam stand er auf. »Lass uns weitergehen«, stöhnte er.
Laurentius setzte seine Erzählungen fort, aber Benjamin hörte nicht mehr hin. Um sich von den vielen Worten und dem anstrengenden Aufstieg abzulenken, dachte er an Louise. War sie wirklich tot? Oder gehörte diese Behauptung zu dem individuellen Wahn des Mannes, der ihn vor den Streunern gerettet hatte? Kowalski fiel ihm ein, und sein Hinweis darauf, dass er eigentlich gar nicht verrückt war, sondern zu den wenigen zählte, die sich in der Stadt einen klaren Verstand bewahrt hatten. Vernunft und Verrücktheit schienen hier so dicht beisammenzuliegen, dass das eine manchmal nicht vom anderen unterschieden werden konnte. War das
der Preis, den man für das Leben nach dem Tod bezahlte? Verlor man früher oder später den Verstand?
Ich muss raus aus diesem Affentheater, dachte Benjamin, als er weiter oben das Ende der Treppe sah. Bevor ich ebenfalls überschnappe. Ich bin schon einmal kurz davor gewesen. Wer länger hierbleibt, rastet aus oder richtet sich eine kleine Nische ein, von allen anderen getrennt. So wie Velazquez. Aber selbst Velazquez hatte seltsame Gedanken im Kopf.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Laurentius und blieb auf der obersten Stufe stehen.
»Ich bin … ganz Ohr«, ächzte Benjamin. Er stand vornübergebeugt, die Hände an die Beine gestützt. Es war noch immer kalt, aber seit einer halben Stunde schwitzte er in seinem Parka.
Laurentius drehte sich um und breitete die Arme aus. »Das ist mein kleines Reich. Und dort wächst der Baum, von dem ich dir erzählt habe.«
Eine weite Betonfläche, auf der Schnee eine mehrere Zentimeter dicke Schicht bildete, diente als Fundament für ein großes, quadratisches Gebäude mit der Kuppel eines Observatoriums, in der sich an mehreren Stellen die Öffnungen kleiner Fenster zeigten. Laurentius stakste bereits zum Baum, der etwa hundert Meter vom Gebäude entfernt stand, am Rand der Betonfläche: rund zehn Meter hoch, mit ausladender Krone. Er bot einen seltsamen Anblick, wirkte mit all den Blättern fehl am Platz in der weißen Winterlandschaft. Und er hing voller Früchte, wie Benjamin sah, als er Laurentius folgte.
Der Greis deutete stolz darauf. »Das ist er. Als käme er direkt aus dem Garten Eden.«
»Wie bitte?«
»Ich habe dir davon erzählt«, sagte Laurentius vorwurfsvoll. »Ich habe dir alles erklärt, mein Junge. Dies ist der Baum der Erkenntnis. Hast du nie die Bibel gelesen? Adam und Eva? Das Paradies? Die verbotene Frucht?«
Benjamin betrachtete die großen rot-grünen Äpfel und schüttelte langsam den Kopf. »Es wurde falsch übersetzt.«
Laurentius sah ihn erstaunt an.
»In der Bibel ist nicht von einem Apfel die Rede«, sagte Benjamin. »Das Bild der verbotenen Paradiesfrucht geht auf eine falsche Übersetzung des lateinischen Wortes malum zurück, das sowohl ›böse‹ als auch ›Apfelbaum‹ heißen kann.«
»Und woher weißt du das, mein Junge?«
»Ich habe … darüber gelesen«, sagte Benjamin, aber er wusste nicht mehr, wo. »Ich finde deinen Baum ja sehr interessant«, log er, »aber du hast von einem Teleskop gesprochen und wolltest mir Louise zeigen. Außerdem wäre ich dir sehr dankbar, wenn du einen Stuhl für mich hättest. Ich kann mich nämlich kaum mehr auf den Beinen halten.«
»Ein bisschen Tod, ein paar Treppenstufen und schon keinen Mumm mehr in den Knochen«, murmelte Laurentius und ging mit langen, energischen Schritten voraus. Benjamin folgte ihm ins Observatorium, die Beine steif und müde.
Der größte Teil des Erdgeschosses bestand aus leeren Zimmern, in denen Techniker und Wissenschaftler vielleicht einmal an Computern gesessen hatten und mit der Auswertung astronomischer Daten beschäftigt gewesen waren. Dieser Gedanke erschien Benjamin seltsam, und er versuchte ihn
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