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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Menschen an Kaminen und wärmten sich.
    Vor ihnen ragte einer der sieben Hügel der Stadt auf, viel höher als die römischen. Eine Straße schraubte sich am Hang empor und erinnerte Benjamin an die Schienen, die vom tribünenartigen Holzgerüst ausgehend an den Innenwänden des Lochs in die Tiefe führten.
    »Die Straße ist viel zu lang«, verkündete Laurentius. »Dreimal führt sie um den ganzen Hügel herum. Über die Treppe kommen wir schneller nach oben.«
    Benjamin sah die Treppe hoch. »Wie viele Stufen sind es?«
    »Genau sechshundertsechsundsechzig«, erwiderte Laurentius fröhlich. »Eine interessante Zahl, nicht wahr? Ich habe mich oft gefragt, ob es Zufall ist.«
    Benjamin stöhnte leise. »Müssen wir unbedingt hoch?«
    »Willst du Louise sehen oder nicht? Na komm schon. Du hast ein gutes Training hinter dir. Bist das Treppenhaus in dem Wolkenkratzer zweimal rauf- und runtergestiegen.«

    »Hat dir das ebenfalls ein Apfel zugeflüstert?«, fragte Benjamin und brachte die ersten Stufen hinter sich. Das Zittern in seinen Knien dauerte an, und sein Magen knurrte. Gleichzeitig war ihm übel – eine seltsame Mischung.
    »Spar dir den Spott, mein Junge. Du wirst es verstehen, wenn wir oben sind.«
    Der Aufstieg war noch anstrengender, als Benjamin befürchtet hatte – schon nach wenigen Minuten blieb er zum ersten Mal keuchend stehen. Laurentius nahm ihm den Rucksack ab.
    »Dich kann ich nicht auch noch tragen«, sagte er.
    »Bin ich tot gewesen?«, schnaufte Benjamin und zwang sich, den Fuß auf die nächste Stufe zu setzen. »Als mich der Schatten erwischte … Hat er mich getötet?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Ich denke, du sprichst mit allwissenden Äpfeln.«
    Laurentius rümpfte die Nase. »Für jemanden, der so riecht wie du, bist du ganz schön frech, mein Junge.« Und dann begann er zu erzählen: von einem Baum, der oben auf dem Hügel wuchs, neben dem Observatorium, in dem er wohnte, einem Baum, an dem immer Äpfel hingen, ungeachtet der Jahreszeit in diesem Teil der Stadt. Er erzählte von Apfelkernen und Träumen, die ihm von Ereignissen und Menschen berichteten. Er erzählte von einem Hauptteleskop, das nur während einer Elektrostunde bewegt werden konnte, und von einem kleineren, das er auf die Bibliothek gerichtet hatte und durch das man die tote Louise sah. Während die Treppenstufen für Benjamin immer höher wurden und sich bei jedem schweren Schritt stechender Schmerz durch seine Beine fraß, ließ sich Laurentius im Plauderton über die ersten
Menschen aus, die vor zweihundert Jahren aus der Stadt verschwunden waren.
    »Ich bin unmittelbar nach ihrem Verschwinden in der Stadt angekommen«, sagte er und trat behände von einer Stufe zur nächsten. »Außer mir gab’s damals hier keine Menschenseele, mein Junge, nur den Nebel und die Kreaturen darin. Hat eine Weile gedauert, bis ich mich zurechtgefunden habe. Zum Glück bin ich in der Nähe des Supermarkts zu mir gekommen; das hat’s leichter gemacht. Ich bin der Erste von den Zweiten«, fügte er hinzu und lachte meckernd.
    Benjamin hätte gern die eine oder andere Frage gestellt, aber er bekam ohnehin kaum genug Luft. Laurentius sprach weiter, als würden seine Beine von jemand anders bewegt. So sah es tatsächlich aus: Arme und Oberkörper schienen zu ruhen, und bei den Bewegungen der Beine unter dem langen Lodenmantel zeigte sich jene besondere Art von Schwung, die Benjamin einmal bei einem Stelzenläufer gesehen hatte.
    Als sie die Hälfte der Stufen hinter sich hatten, sank Benjamin zu Boden und japste. Er streckte alle viere von sich, den Kopf auf eine von Schnee gepolsterte Stufe gelegt. Laurentius hingegen zeigte nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen und erzählte munter weiter. Er berichtete davon, wie er damals vor zwei Jahrhunderten die Stadt durchstreift und die ersten anderen Menschen gefunden hatte, die nach ihrem Tod hier erschienen waren. Etwa vierzig Jahre nach seinem Tod und dem Erwachen in der Stadt hatte er sich im Observatorium niedergelassen und damit begonnen, mit Hilfe der Teleskope nach den Erbauern Ausschau zu halten.«
    »Nach den … Erbauern?«, keuchte Benjamin.

    »Glaubst du, diese Stadt ist einfach so entstanden, mein Junge?«, erwiderte Laurentius und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Offenbar konnte er es kaum abwarten, den Weg nach oben fortzusetzen. »Jemand hat sie erbaut.«
    »Das hat auch … Louise gesagt«, erinnerte sich Benjamin.
    »Louise ist ein kluges Mädchen. Das

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