Die Stadt - Roman
sah Benjamin etwas, einen Ballon unter dem etwas hing. »Was ist das?«
»Hast du noch nie einen Heißluftballon gesehen, mein Junge? Kannst du erkennen, was auf dem Ballon geschrieben steht?«
Benjamin tastete nach den Hebeln und Schrauben für die manuelle Einstellung. Das Bild wurde schärfer. »Da steht … Phönix 1.«
»Und darunter?«
Unter den Namen des Ballons hatte jemand Ihr könnt uns alle mal geschrieben.
»Jemand, der die Stadt und ihre Bewohner liebt, kein Zweifel«, kommentierte Laurentius.
»Es befindet sich niemand in der Gondel«, sagte Benjamin, das Auge noch immer am Okular.
»Weil es ein Testballon ist. Mach Platz, mein Junge, mach Platz, damit ich feststellen kann, wer ihn gestartet hat.«
Benjamin trat zurück, aber Laurentius beugte sich nicht sofort übers Okular.
»Geh schlafen«, sagte er, und der scherzhaft-schrullige Ton verschwand aus seiner Stimme. »Sammle Kraft. Du wirst sie brauchen. Mach dir wegen Louise keine Sorgen. Ich habe geträumt, dass sie noch zwei Tage tot bleiben wird, und gerettet werden muss sie erst, wenn sie erwacht. Du hast also Zeit genug.« Laurentius deutete auf das große Teleskop. »Ein Heißluftballon, mein Junge. Eine wirklich originelle Idee. Noch nie hat jemand versucht, die Stadt auf diese Weise zu verlassen. Und weißt du was? Es könnte klappen! Denk daran, wenn du einschläfst. Vielleicht träumst du dann davon.«
Aber als sich Benjamin wieder aufs Feldbett legte, quetschte die Müdigkeit alle Gedanken aus seinem Gehirn und brachte völlig traumlosen Schlaf.
32
Es war dunkel geworden, die »Elektrostunde« war zu Ende. Kerzen und Öllampen brannten im Observatorium; ihr gelber Schein glättete alle Kanten. Das Hauptteleskop ließ sich ohne Strom nicht bewegen und blieb auf die Stelle des Himmels gerichtet, an der sie am Morgen den Testballon gesehen hatten. Benjamin saß an dem viel kleineren, mobilen Teleskop und spähte damit in den Nebel jenseits der Stadt, aber so sehr er auch suchte – nirgends leuchteten Lichter. Vielleicht lag es an den Nebelgezeiten; er kannte ihren Rhythmus nicht.
»Habe ich dir gesagt, dass er in der Sonne verglüht ist?«, sagte Laurentius hinter ihm.
»Wer?«, fragte Benjamin geistesabwesend. Er bewegte das kleine Teleskop vorsichtig und ließ es der Linie des Horizonts jenseits der Stadt folgen.
»Nicht wer, sondern was. Der Testballon. Ich habe ihn im Auge behalten, während du geschlafen hast, mein Junge. Er ist zu hoch aufgestiegen und in der Sonne verglüht. Darauf solltest du achten, wenn du dich mit Louise auf den Weg machst. Nicht zu hoch aufsteigen. Sonst lauft ihr Gefahr, in der Sonne zu verglühen.«
Benjamin drehte sich um.
Laurentius trug einen langen Kittel, der fast wie ein Nachthemd wirkte und ihm, wie der Lodenmantel, bis zu den Füßen reichte. Er hielt einen Zettel in der Hand und hob ihn. »Ich hab’s dir aufgeschrieben. Nach meinen Berechnungen ist der Ballon bei den alten Fabriken gestartet, nicht weit vom Platz mit den zwei Pferden entfernt. Von der Bibliothek aus sind es etwa zwei Stunden zu Fuß.«
Benjamin starrte auf den Zettel. »Danke«, sagte er. Und dann fügte er hinzu: »Ich habe sie wirklich gesehen, die andere Stadt. Vom Wolkenkratzer aus. Als der Nebel ganz weit zurückgewichen ist.«
»Ich bin sicher, dass du etwas gesehen hast«, sagte Laurentius. »Es gibt etwas dort draußen jenseits des Nebels, kein Zweifel. Der Apfelbaum kommt von dort.«
»Was?«
Laurentius seufzte. »Ich hab dir davon erzählt, mein Junge. Komm jetzt, das Essen ist fertig. Ich höre deinen Magen bis hierher knurren.«
Benjamin hatte inzwischen ein Bad hinter sich – in der gleichen Seifenlauge, die den größten Teil des Schmutzes aus seiner zum Trocknen aufgehängten Kleidung gelöst hatte – und trug eine weite Hose, die aus Laurentius’ Garderobe stammte, dazu ein dickes, kariertes Flanellhemd. Er folgte dem Greis zu einem der größeren Räume im Erdgeschoss, wo ein gußeiserner Ofen für angenehme Wärme sorgte. Laurentius öffnete die Klappe und legte Holz – Holz! – nach, wandte sich dann der großen Pfanne auf dem Ofen zu, in der es laut brutzelte. Ein aromatischer Geruch lag in der Luft. An den Wänden standen lange Glaskästen, wie die Ausstellungsvitrinen eines Museums, und sie enthielten sonderbare Gegenstände: einen alten Schuh aus zerfranstem Wildleder, rostige Nägel, einen Hammer, dem die Hälfte des Stiels fehlte, Schatullen, mehrere Münzen mit
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