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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Schlangendarstellungen und andere Dinge, die offenbar Teil größerer Objekte gewesen waren.
    »Fundstücke aus verschiedenen Teilen der Stadt«, erklärte Laurentius und stellte Teller auf den Tisch am Ofen. »Früher
habe ich lange Streifzüge unternommen. Ist dir aufgefallen, dass es in der Stadt keine Fotos gibt? Nicht ein einziges! Ich habe in Hunderten von Wohnungen gesucht, auch in solchen, die zu neuen Gebäuden oder neu gewachsenen Gebäudeteilen gehörten, aber Fotos habe ich nie gefunden. Nicht ein Bild, das Menschen und ihre Umgebung zeigt. Als hätten sie nie existiert.«
    Benjamin ging zum Tisch und nahm Platz. »Worauf willst du hinaus?«
    »Vielleicht«, sagte Laurentius, brachte die Pfanne und legte Benjamin ein dickes Steak auf den Teller, »ist unser früheres Leben nur eine Illusion. Vielleicht ist die Stadt nur eine Illusion. Vielleicht sind wir längst bei Gott und nie von Ihm getrennt gewesen, wie es der Sündenfall behauptet. Vielleicht sind wir Teil Seiner Erinnerungen. Vielleicht schwirren wir beide als Gedanken durch Sein allmächtiges Bewusstsein.«
    »Das halte ich, mit Verlaub, für esoterischen Stuss«, sagte Benjamin.
    Laurentius lachte. »Ich auch, mein Junge, ich auch. Die Stadt existiert, kein Zweifel. Wir sind tot, und wir sind hier. Und jetzt iss.« Er nahm Platz, nachdem er sich selbst aus der Pfanne bedient hatte. Eine Schüssel enthielt Gemüse: Bohnen aus einer großen Konservendose.
    »Was für ein Fleisch ist das?«, fragte Benjamin mit vollem Mund.
    »Schmeckt’s?«
    »Ja.«
    »Das ist die Hauptsache«, sagte Laurentius. »Und es ist nahrhaft.«

    Ein bestimmter Verdacht regte sich in Benjamin, aber er schob den Gedanken sofort beiseite – sein leerer Magen verlangte es.
    »Es gibt Theorien«, sagte Laurentius nach einer Weile und schob den Teller zurück, obwohl er noch nicht alles gegessen hatte. Er griff nach einem Beutel, der neben dem Ofen lag, holte mehrere Äpfel daraus hervor und begann sie aufzuschneiden.
    »Ich weiß. Velazquez hat einige erwähnt. Hannibal und Abigale haben ihre eigene. Und Kowalski …«
    Laurentius richtete einen schrumpeligen Zeigefinger auf ihn. »Glaub nicht alles, was man über Kowalski sagt. Er ist nicht so verrückt, wie die anderen behaupten. Nun, es gibt Theorien, und es gibt Wahrheiten, und der Baum dort draußen, der selbst im Winter Früchte trägt, ist eine solche Wahrheit. Er spricht zu mir, in meinen Träumen – das ist eine andere Wahrheit. Ich habe es dir erklärt, mein Junge, aber du hast nicht zugehört.«
    »Ich war …«
    »Du warst müde, ich weiß.« Laurentius hatte die Äpfel aufgeschnitten und entnahm ihnen schwarze Kerne. »Jetzt bist du wach. Hör zu. Der Baum ist von einem der ersten Menschen in dieser Stadt gepflanzt worden, vor mehr als zweihundert Jahren. Er war schon groß, als ich hier eintraf. Wer seinen Keim hierherbrachte, ist jenseits des Nebels gewesen und hat gesehen, was sich dort befindet. Vielleicht kehrte er zurück, um den anderen Menschen den Weg hinaus zu zeigen. Vielleicht hat er damals tatsächlich das Paradies gefunden, wer weiß, und dann könnte dies ein Ableger des biblischen Baums der Erkenntnis sein.« Laurentius legte die
Apfelkerne in eine Schale und zerrieb sie mit einem Mörser. »Möglicherweise sollte die ›verbotene Frucht‹ auch uns den Weg weisen. Aber irgendetwas scheint nicht richtig geklappt zu haben, denn bisher bin ich der Einzige, den die Äpfel von Dingen träumen lassen, die geschehen sind und geschehen werden. Kleiner Test gefällig?«
    Benjamin deutete auf das schwarze Pulver. »Das ist eine Droge, richtig?«
    Laurentius verzog das Gesicht. »Droge! Nenn es eine helfende Hand, die im Bewusstsein eine bis dahin verschlossene Tür öffnet.«
    »Ich habe gerade gegessen und möchte nicht schon wieder kotzen«, sagte Benjamin.
    »Keine Sorge, mein Junge. Du bist nicht der erste Gast an diesem Tisch. Und außerdem … Äpfel sind gesund, oder?« Er gab das schwarze Pulver in eine kleinere Pfanne, die er auf den Ofen stellte, und es dauerte nicht lange, bis dunkler Rauch emporkräuselte.
    Wieder am Tisch richtete Laurentius einen plötzlich sehr ernsten Blick auf Benjamin. »Ich habe von dir geträumt. Von dir, Louise und der Stadt. Die Seelen sind miteinander verbunden, weißt du?«
    »Sind sie das?« Benjamin sah argwöhnisch zum Ofen. Ein herber Duft, wie von Curry oder Muskat, ging von der Pfanne aus.
    »Denk an die andere Welt zurück. Sieben Milliarden Bewohner auf

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