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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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würde befehlen, die Tore zu schließen, aber noch rechtzeitig? Der Mann bewegte sich jetzt in einem Teil der Menge, wo man nichts von den Ereignissen mitbekommen hatte und wo er untertauchen konnte. Wenn er schlau war, und das hielt ich ihm zugute, würde er sein Gewehr fallen lassen oder unter der Kleidung verbergen.
    »Gottverdammt!« Ich sah ihn, sah ihn nicht, entdeckte ihn wieder. Keiner hielt ihn auf. Noch war er ein gutes Stück vom Ausgang entfernt. Ich versuchte, mir sein Aussehen einzuprägen, sein Haar, seine Kleidung: kurz geschoren, graue Sweatjacke mit Kapuze, schwarze Hose. Alles ausgesucht unauffällig. Hatte er sich seiner Waffe entledigt? Jetzt schwamm er mitten im Getümmel.
    Ich stand auf, Bowdens Pistole in der Hand. Eine lächerliche P38, aber gut gepflegt und vor allem geladen. Ich machte eine Bewegung zum Grenzübergang hin, aber unmöglich, da hindurchzukommen, nicht in diesem Chaos, nicht bei all den aufgescheuchten Wachen, die mit ihren MPs fuchtelten. Selbst wenn meine qomanische Uniform mir durch die qomanischen Linien half, auf der Besź-Seite würde man mich aufhalten, und der Schütze war mittlerweile zu weit entfernt, als dass ich noch hoffen konnte, ihn einzuholen. Ich zögerte. »Dhatt, rufen Sie Verstärkung und geben Sie auf Bowden acht!«, rief ich, warf mich herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung, nach Ul Qoma hinein, zu Dhatts mit arroganter Nonchalance abgestelltem Auto.
    Vor mir tat sich eine Gasse auf: Die Leute sahen mich kommen mit meinem Militsya -Abzeichen, sahen die Pistole in meiner Hand und wichen beiseite. Die Militsya sahen in mir einen der ihren, im Einsatz wie sie, und hielten mich nicht auf. Ich schaltete das Blaulicht ein und drehte den Zündschlüssel.
    Den Fuß fest auf dem Gaspedal, jagte ich den Wagen mit heulendem Motor durch den externen wie einheimischen Verkehr an der Längsseite der Kopula entlang. Die Sirene irritierte mich, ein an- und abschwellendes Quäken, das aggressiver klang als unser Signal. Der Schütze erkämpfte sich vermutlich jetzt grade einen Weg aus dem von einer panischen Menschenmenge verstopften Tunnel, während vor meinem mit Blaulicht und Sirene dahinrasenden Dienstwagen alle anderen Autos zur Seite wichen, ostentativ in Ul Qoma, auf den Topolgänger-Straßen in Besźel mit der üblichen versteckten Nervosität angesichts einer externen Krise. Ich riss das Lenkrad herum, der Wagen schleuderte nach rechts, holperte über Straßenbahnschienen in Besźel.
    Wo blieb Ahndung? Aber es hatte kein Grenzbruch stattgefunden.
    Kein Grenzbruch, obwohl eine Frau ermordet worden war, kaltblütig, von Besźel aus in Ul Qoma. Tätlicher Angriff, ein Mord, ein versuchter Mord, aber diese Kugeln waren in der Kopula abgefeuert worden, flogen durch den einzigen legalen Korridor zwischen den beiden Städten. Ein perfides, abscheuliches Verbrechen, besonders wegen der Überlegtheit, mit der der Heckenschütze seinen Standort gewählt hatte, an dem einzigen Punkt, wo er unverhohlen über die letzten Meter Besźel, über die materielle Grenze hinweg nach Ul Qoma hineinschauen, sein Ziel anvisieren und schießen konnte, ohne Grenzbruch zu begehen. Man hatte auch hier, wie bei Mahalia, geradezu akribisch darauf geachtet, keinesfalls Ahndung auf den Plan zu rufen.
    Kein Grenzbruch - Ahndung hatte keine Befugnis einzugreifen, und nur Polizeikräfte Besźels befanden sich jetzt in einer Stadt mit dem Mörder.
    Ich bog noch einmal nach rechts ab und fuhr wieder dort entlang, wo wir vor einer Stunde gewesen waren, in der Weipay Street in Ul Qoma, die sich deckungsgleich den Längen- und Breitengrad mit dem besźseitigen Vorfeld der Kopula teilte. Ich fuhr so dicht heran, wie die Menge es zuließ, bremste scharf, stieg aus und kletterte auf das Wagendach. Über kurz oder lang würde die qomanische Polizei auftauchen, um sich zu erkundigen, was ich, ihr vermeintlicher Kollege, hier machte, aber die Frist gedachte ich zu nutzen.
    Ich schaute nicht in den Tunnel, auf die Masse der zum Ausgang flüchtenden Besź, sondern richtete den Blick auf Ul Qoma und dann auf die Kopula, ohne eine Miene zu verziehen, ohne in irgendeiner Weise erkennen zu lassen, dass meine Aufmerksamkeit etwas anderem galt als Ul Qoma. Niemand konnte mir einen Grenzbruch vorwerfen. Das flackernde Einsatzlicht auf dem Dach färbte meine Beine abwechselnd rot und blau.
    Dennoch nahm ich mir die Freiheit, wahrzunehmen, was in Besźel vor sich ging. Immer noch drängten weit mehr Reisende

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