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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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in die Kopula hinein als hinaus, doch je mehr die Panik im Innern um sich griff, desto stärker wurde der Gegendruck. Die Situation schaukelte sich gefährlich auf, Menschenschlangen wogten nach hinten, die Ahnungslosen stemmten sich den Verstörten entgegen, die nichts anderes wollten als sich in Sicherheit bringen. Qomani nichtsahen das tolle Treiben des Nachbarn und wechselten abgewandten Blicks auf die andere Straßenseite, um nicht in den Sog der ausländischen Probleme zu geraten.
    »Weg hier, nichts wie weg ...«
    »Lasst uns rein, was ist ...?«
    Hinter den wogenden Menschentrauben fiel mir ein Mann auf, der es eilig zu haben schien. Er erregte meine Aufmerksamkeit, weil er schnell ging, ohne zu hasten, sich klein machte, den Kopf gesenkt hielt. Ich glaubte, den Schützen zu erkennen. War er's? War er's nicht? Jedenfalls schlüpfte der Mann eben an einer letzten schrill lamentierenden Familie vorbei und durch einen lückenhaften Polizei-Kordon, der sich bemühte, die Flut zu scheiden und zu dämmen. Niemand beachtete ihn. Draußen bog er zur Seite ab und ging stadteinwärts, wieder in seinem typischen Gang, zügig, aber nicht mit verdächtiger Eile.
    Mir muss ein Laut entschlüpft sein, vielleicht ein im letzten Moment halb verschlucktes Halt, denn obwohl ein paar Dutzend Meter entfernt, schaute der Mörder sich um. Ich sah, dass er mich sah und instinktiv nichtsah, meiner Uniform wegen, die Ul Qoma signalisierte. Doch in dem Sekundenbruchteil, bevor er die Augen niederschlug, hatte er Verdacht geschöpft und beschleunigte seinen Schritt. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, nur wollte mir nicht einfallen, wo. Ich musste verhindern, dass er entkam, aber die Policzai in Besźel hatte keinen Grund, diesen Mann festzuhalten, und ich war in Ul Qoma. Kurzentschlossen sprang ich vom Wagendach herunter und nahm die Verfolgung auf.
    Qomani schob ich zur Seite. Besź versuchten, mich zu nichtsehen, mussten aber hurtig Platz machen, um nicht von mir überrannt zu werden. Ich sah ihre verdutzten Blicke. Ich kam schneller voran als der Mörder. Statt auf seinen Rücken, schaute ich auf diesen oder jenen Punkt in Ul Qoma, der mir erlaubte, ihn im Auge zu behalten. Es war eine indirekte Verfolgung, hart am Rand der Legalität. Ich überquerte den Vorplatz. Zwei Militsya, an denen ich vorbeikam, riefen etwas in fragendem Ton. Ich ignorierte sie.
    Der Mann hatte einen sechsten Sinn oder hörte meine Schritte. Ich war bis auf einige zehn Meter an ihn herangekommen, als er sich umschaute. Sein Blick traf mich, seine Augen wurden groß, doch selbst jetzt unterlief ihm nicht der Fehler, länger als eben noch vertretbar jemanden in Ul Qoma anzuschauen. Er hatte den Verfolger registriert. Wieder in Besźel, ging er mit großen Schritten quer über den Platz hinter einer nach Kolyub fahrenden Tram in Richtung Boulevard Ermann. In Ul Qoma war es der Saq Umir Way. Auch ich ging schneller.
    Er schaute noch einmal über die Schulter, und jetzt zeigte er Nerven. Er fiel in Laufschritt, schlängelte sich zwischen den Passanten in Besźel hindurch, warf kurze Blicke nach links und rechts in von bunten Kerzen erleuchtete Cafés, in Besźels Buchhandlungen - in Ul Qoma waren die Straßen weniger belebt.
    Der Mörder bog nach links ab, in eine Seitenstraße. Ich folgte ihm. Er lief schnell, schneller als ich. Er lief wie ein Soldat. Der Abstand zwischen uns wurde größer. Die Budenbesitzer und Fußgänger in Besźel begafften den Mörder, die in Ul Qoma mich. Mein Zielobjekt setzte mit der Leichtigkeit eines Hürdenläufers über eine Mülltonne hinweg, die ihm den Weg versperrte; ich fühlte mich weniger sportlich und nahm den kleinen Umweg in Kauf. Ich wusste, wo er hinwollte. Die Altstadt von Besźel beziehungsweise Ul Qoma ist eine eng gerasterte Deckungsgleiche, zu den Rändern hin zerfasert sie in externe und totale Bezirke. Was wir uns lieferten, war keine Verfolgungsjagd, konnte es nicht sein. Wir waren lediglich zwei Läufer, die beide ihr Tempo beschleunigten, er in seiner Stadt, ich, wutentbrannt, in meiner.
    Ich stieß ein unartikuliertes Gebrüll aus. Eine alte Dame prallte entsetzt vor mir zurück. Ich sah ihn nicht, sah nicht ihn, sondern sah verbissen, legal, nur Ul Qoma, qomanische Lichter, Graffiti, Menschen, immer nur Ul Qoma. Er passierte ein schmiedeeisernes Geländer im typisch verschnörkelten Stil Besźels. Er war zu weit entfernt. Er befand sich in einer totalen Straße, einer Straße exklusiv in Besźel. Er blieb

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