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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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wo wir waren und was wir folglich waren.
 
    Laut Verzeichnis war das Holzstück ausgetauscht worden gegen: Rohr, Messing, inwendig Zahnradmechanismus, altersbedingt (Verkrustungen!) unbeweglich. Drei weitere Objekte fehlten: die Überreste einer mit einem Proto-Mechanismus ausgestatteten Hummerschere; ein korrodierter Apparat, Bauweise ähnlich einem Sextanten en miniature; eine Hand voll Nägel und Schrauben. Alle diese Fundstücke entstammten frühen Grabungsperioden, sie gehörten zu der Kategorie, die in Stoff eingeschlagen war - und sie waren alle ersetzt worden durch Papierknäuel, Steine, das Bein einer Puppe.
    Wir suchten in der Randzone den Boden ab. Wir fanden Schlaglöcher, alte Scharrstellen und die winterwelken Überreste von Blumen, aber keine unter einer dünnen Erdschicht verborgenen unbezahlbaren Schätze aus dem Präkursor-Zeitalter. Sie waren vor langem schon eingesammelt worden. Obwohl unverkäuflich. Es gab keinen - legalen - Markt dafür.
    »Damit ist es Grenzbruch«, sagte ich. »Egal, woher diese Orcinier gekommen oder wohin sie gegangen sind, sie können diese Dinge nicht in Ul Qoma aufgehoben haben, also war es in Besźel, deshalb ist es Grenzbruch.«
    Auf dem Rückweg rief Ashil jemanden an, und als wir in die Zentrale kamen, schwirrten bei Ahndung bereits Für und Wider durch den Raum, wurde abgestimmt über Angelegenheiten, von denen ich nichts wusste. Ahnder platzten in diese seltsame Debatte, das Handy am Ohr, riefen dazwischen. Die Atmosphäre wirkte angespannt - auf die typische, nüchterne Art von Ahndung, aber man spürte, wie die Luft vibrierte. Aus beiden Städten trafen Nachrichten ein, halblaut kommentiert von denen am Telefon, die Rapporte von Kollegen im Außendienst weitergaben. »Alle sind in Alarmbereitschaft«, sagte Ashil. »Es geht los.«
    Sie fürchteten Kopfschüsse und Raubmorde in Tateinheit mit Grenzbruch. Die Anzahl minderschwerer Grenzbrüche nahm zu. Ahndung war bemüht, so weit als möglich zur Stelle zu sein, doch viele mussten sie durchgehen lassen oder sie blieben sogar unbemerkt. Jemand meldete, an Mauern in Ul Qoma wären Graffiti aufgetaucht, deren Stil vermuten ließ, dass sie von Künstlern aus Besźel stammten.
    »So schlimm war die Lage nicht mehr, seit, nun ja ...« Ashil versorgte mich mit geflüsterten Erklärungen, während die Diskussion weiterging. »Das da ist Raina. Sie ist unerbittlich in dieser Sache.« »Samun glaubt, auch nur das Wort Orciny im Munde zu führen, wäre schon so etwas wie Kapitulation.« »Byon glaubt das nicht.«
    »Wir müssen bereit sein«, äußerte der Wortführer. »Wir sind auf etwas gestoßen ...«
    »Sie, Mahalia. Nicht wir«, warf Ashil ein.
    »Schön, Mahalia ist auf etwas gestoßen. Wer kann uns sagen, wann passiert, was angeblich passieren soll? Wir tappen im Dunkeln. Wir wissen, der Krieg ist da, können aber nicht erkennen, wohin wir zielen müssen.«
    »Mir wird das zu viel«, sagte ich leise zu Ashil.
    Er begleitete mich zurück in mein Zimmer. Als ich merkte, dass er mich einschloss, protestierte ich laut und heftig. »Vergessen Sie nicht, weshalb Sie hier sind«, antwortete er durch die Tür.
    Ich saß auf dem Bett und versuchte, Mahalias Marginalien anders zu lesen. Diesmal konzentrierte ich mich nicht darauf, der Fährte eines bestimmten Stifts zu folgen, dem Tenor einer bestimmten Periode ihrer Studien, einen Gedankengang zu rekonstruieren. Stattdessen studierte ich alle Anmerkungen auf jeder Seite, die Meinungen von Jahren en bloc. Ich hatte mich bemüht, ihre Anmerkungen anzugehen wie ein Archäologe, die Schichten einzeln auszuwerten. Jetzt las ich jede Seite, ohne die zeitliche Ordnung zu beachten, eine Diskussion mit sich selbst.
    Auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels, zwischen Stratas zorniger Theorie, las ich, in Großbuchstaben über einen früheren Vermerk geschrieben: ABER VGL. SHERMAN. Eine Linie von dort zu einer Behauptung auf der gegenüberliegenden Seite: ROSENS ENTGEGNUNG. Diese Namen waren mir schon am Anfang meiner Ermittlungen begegnet. Ich blätterte einige Seiten zurück. Mit demselben Stift und in derselben späten, flüchtigen Schrift notiert, stand da: NEIN - ROSEN, VIJNIC.
    Behauptung überschrieben mit Kritik, eine Häufung von mit Ausrufungszeichen versehenen Vorbehalten im Buch. NEIN, ein Pfeil verwies nicht auf den gedruckten Text, sondern auf eine Anmerkung, auf ihre eigenen früheren, begeisterten Kommentare. Ein Streitgespräch Mahalia vs. Mahalia. WESHALB EIN

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