Die Stadt und die Sterne - Mit einem Vorwort von Gary Gibson
in Diaspar diente in erster Linie zur Zierde und war als Schutz ziemlich ungeeignet.
Da ihr Unbehagen ausschließlich seine Schuld war, gab er ihr wortlos seinen Mantel. Das hatte nichts mit Ritterlichkeit zu tun, denn die Gleichberechtigung der Geschlechter war schon zu lange Zeit etwas so Normales, als dass es für Konventionen dieser Art noch Bedarf gegeben hätte. Im umgekehrten Fall hätte Alystra ihren Mantel Alvin gegeben, und er hätte ihn ebenso automatisch angenommen.
Es war nicht unangenehm, den Wind beim Gehen im Rücken zu haben, und bald hatten sie das eine Ende des Tunnels erreicht. Ein kunstvoll behauenes Steingitter hinderte sie daran, weiterzugehen, aber das war auch gut so, denn sie standen am Rand des Nichts. Der große Luftkanal öffnete sich auf die steil abfallende Turmseite, und vor ihnen ging es mindestens tausendfünfhundert Meter senkrecht hinunter. Sie standen hoch oben auf dem äußersten Wall der Stadt, und Diaspar lag unter ihnen ausgebreitet, wie es bisher wohl wenige gesehen hatten.
Die Aussicht war das Gegenteil derjenigen, die Alvin von dem Hügel im Park gehabt hatte. Er konnte nun auf die konzentrischen Wellen aus Stein und Metall hinabschauen, die sich in kilometerlangen Windungen bis in das Herz der Stadt hinabzogen. Weit in der Ferne, zum Teil durch Türme verdeckt, sah er die Rasenflächen und Bäume und den ewig kreisenden Fluss. Noch weiter dahinter stiegen die entfernten Bastionen Diaspars zum Himmel empor.
Alystra stand neben ihm und betrachtete mit Vergnügen, aber nicht sonderlich überrascht das großartige Bild. Sie hatte die Stadt unzählige Male von anderen, ebenso gut gewählten Stellen aus gesehen – und war zudem wesentlich bequemer dorthin gelangt.
»Das ist unsere Welt – die ganze Welt«, sagte Alvin. »Jetzt möchte ich dir noch etwas anderes zeigen.« Er wandte sich von dem Steingitter ab und ging auf das ferne Licht am anderen Ende des Tunnels zu. Der Wind blies ihm kalt entgegen, aber er bemerkte es kaum, als er im Luftstrom vorwärtsschritt.
Er war erst einige Schritte gegangen, als er bemerkte, dass ihm Alystra nicht gefolgt war. Sie stand noch immer am selben Platz, mit flatterndem Mantel, eine Hand halb erhoben. Alvin sah, dass sie die Lippen bewegte, aber ihre Worte erreichten ihn nicht. Zuerst sah er sie erstaunt an, dann mit Ungeduld, die nicht völlig frei von Mitleid war. Es stimmte, was Jeserac gesagt hatte. Sie konnte ihm nicht folgen. Sie hatte die Bedeutung dieses fernen Lichtpünktchens erkannt, durch das der Wind unaufhörlich nach Diaspar hineinwehte. Hinter Alystra stand die bekannte Welt, voll von Wundern, aber ohne jede Überraschung, die wie eine schimmernde, aber fest geschlossene Luftblase auf dem Strom der Zeit trieb. Vor ihr, nur durch ein paar Schritte von ihr getrennt, lag die leere Wildnis, die Welt der Wüste, die Welt der Invasoren.
Alvin ging zu ihr zurück und stellte erstaunt fest, dass sie zitterte. »Warum fürchtest du dich?«, fragte er. »Wir sind immer noch sicher in Diaspar. Du hast eben durch das eine Fenster geblickt – gewiss kannst du jetzt auch durch das andere hinaussehen!«
Alystra starrte ihn an, als sei er ein fremdartiges Ungeheuer. Nach ihren Maßstäben war er das sicher auch.
»Ich brächte es nicht fertig«, sagte sie schließlich. »Wenn ich nur daran denke, wird mir eiskalt. Geh nicht weiter, Alvin!«
»Aber das ist doch unlogisch!«, wandte Alvin gefühllos ein. »Was kann dir schon passieren, wenn du diesen Gang hinuntergehst und hinaussiehst? Es ist fremdartig und einsam draußen, aber nicht entsetzlich. Ja, je länger ich hinaussehe, desto schöner finde ich …«
Alystra hörte ihm nicht bis zu Ende zu. Sie drehte sich um und lief die lange Rampe hinunter, die sie durch den Tunnel heraufgebracht hatte. Alvin machte keinen Versuch, sie aufzuhalten; es galt als schlechtes Benehmen, einer anderen Person seinen Willen aufzuzwingen. Und ein Überredungsversuch wäre vollkommen zwecklos gewesen, so viel konnte er erkennen. Er wusste, dass Alystra nicht rasten würde, bis sie zu ihren Kameraden zurückgekehrt war. Es bestand keine Gefahr, dass sie sich in den Labyrinthen der Stadt verirren würde, weil sie mit Leichtigkeit ihre Spur zurückverfolgen konnte. Die instinktive Fähigkeit, selbst aus dem kompliziertesten Irrgarten herauszufinden, war nur eine der Errungenschaften, die der Mensch durch das Leben in der Stadt erworben hatte.
Alvin wartete einen Augenblick, als rechnete er doch
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