Die Stahlkönige
Stammesbrüder auf den Inseln, wenn sie ihre Herden bewachten. Sie suchten sich einen hohen Aussichtspunkt, um alle Tiere im Auge zu haben. So standen sie oft stundenlang, reglos wie Statuen. Ein Beobachter mochte glauben, sie befänden sich in einer Art Trance, aber sie bemerkten auch die geringste Unruhe der Herde und handelten augenblicklich.
Entspannt ließ Hael seine Gedanken schweifen und vermied, sie in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Er öffnete sich den Geistern des Landes, wie er es schon als Knabe getan hatte. In jenen Tagen war es ein wundervoller Zeitvertreib gewesen, der nur seinem eigenen, beinahe sinnlichen Vergnügen diente. Im Laufe der Zeit hatte sich diese Fähigkeit weiter entwickelt, und nun nutzte Hael sie, um scheinbar unlösbare Schwierigkeiten zu bewältigen.
Er stand ganz still und atmete kaum noch, wobei er den Herzschlag extrem verlangsamte. Eine Vision seiner Welt entstand vor seinem inneren Auge. Einst war ihm das Festland wie eine große Insel erschienen, die außer Sichtweite lag. Er hatte die Weite kennen gelernt und die vielen Königreiche, von denen jedes mehr als tausendmal so groß wie seine Heimatinsel war. Inzwischen wusste er, dass diese Reiche miteinander wetteiferten, Bündnisse schlossen oder sich bekämpften. Er sah die Welt vor sich, als wäre sie ein gewaltiges Stück Pergament, auf das ein Künstler die einzelnen Länder gezeichnet hätte. Im Westen, Süden und Osten lagen riesige Ozeane. Im hohen Norden erstreckte sich ein unerforschtes, kaltes und furchterregendes Gebiet.
Im Nordwesten, unweit der Küste, lagen Sturminseln, auf denen er geboren wurde. An der Westküste befand sich das primitive Orekah, im Norden das große, schwache Omia und im Süden das mächtige, reiche und fortschrittliche Neva. Das waren die so genannten Sturmländer. Gemeinsam mit ein paar kleinen unwichtigen Ländern lagen Neva, Chiwa, Sono und Gran am südlichen Rand des Kontinents. Der große Fluss trennte die nördliche von der südlichen Welt. Östlich des Flusses gab es ein paar sehr alte Reiche: Delta, Imisia und andere. Und Mezpa. Im Norden zog sich König Haels Reich über einen gewaltigen Steppenbereich. Zwischen seinem Land und den Reichen des Südens lag das ›Vergiftete Land‹: die Zone, die Schlucht, die große Wüste – bis auf ein paar Nomaden, die kaum ein Fremder zu Gesicht bekam, unbewohnte Gebiete.
Jetzt breitete sich Gasams Reich wie ein großer Fleck über den Süden aus und Mezpa verschlang den Südosten. Beide bildeten die Kiefer eines riesigen Schlundes, der darauf brannte, die Steppe zu verschlingen und Haels Reich mit einem Biss zu zermalmen. Es ging nicht anders; er musste kämpfen. Aber wie? Er hatte kaum eine Wahl. Er konnte gegen beide Gegner gleichzeitig kämpfen oder aber nacheinander. Gegen beide anzutreten war närrisch. Also blieb die Frage: Wen sollte er zuerst angreifen? Hael dachte an den Feind, den er kannte: Gasam.
Jetzt tauchte das Gesicht Gasams vor ihm auf. Er versuchte, den Hass zu verdrängen, der zwischen ihnen bestand, und die vielen Sticheleien, Beleidigungen und Quälereien, die er in seiner Kindheit erduldet hatte. Das war der Knabe Gasam.
Der Mann war anders. Hael bemühte sich, nicht an Larissa zu denken, an das wunderschöne junge Mädchen, das ihn wegen Gasam verriet. Was war Gasam? Er war ein herzloses, schreckliches Ungeheuer, das von einer Insel zur nächsten stürmte, die Stämme eroberte und vereinte, zu einer Piratenarmee zusammenschmiedete, plündernd über das Festland herfiel und wieder auf die heimischen Inseln zurückkehrte. Nach einer Weile hatte Gasam beschlossen, dass er eine Zuflucht auf dem Festland brauchte, und die nevanische Hafenstadt Floria erobert. Innerhalb eines Jahres holte er seine Krieger übers Meer, ließ eine schlagkräftige Flotte bauen und vernichtete einen Teil der nevanischen Armee und Marine, die von Shazads Vater angeführt wurden. Dann war Hael eingetroffen und hatte seine neuen berittenen Truppen zum ersten Mal in die Schlacht geführt. Gemeinsam mit den Nevanern hatten sie Gasam aus Floria und Neva vertrieben.
Gasam war mit seinen Schiffen nach Süden gesegelt. Dort verbündete er sich mit dem König von Chiwa und half ihm, kleinere Länder und Inseln zu erobern. Dabei gewann er immer mehr Macht und attackierte den Verbündeten schließlich ohne Vorwarnung. Chiwa war ein lohnender Preis. Kurz darauf nahm er Sono durch einen Blitzkrieg. Die Sonoaner hatten nicht geahnt, dass Gasam gegen sie
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