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Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Titel: Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Hellbeck
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sei. Sajontschkowski wollte damit sagen, dass der Autor dieses Briefes die Militärzensur nicht zu fürchten brauchte und sich offen mitteilte. Der Brief hatte für den Historiker Sajontschkowski einen hohen Quellenwert.
    Für Historiker heute ist der Einstieg dieser Erzählung besonders interessant. Stolz verkündet Sajontschkowski seine Herkunft aus der Familie des russischen Admirals Nachimow, der 1853 die osmanische Flotte in der Seeschlacht bei Sinope vernichtete und anschließend im Krimkrieg das belagerte Sewastopol verteidigte. Der Name Nachimow war im Zweiten Weltkrieg wieder zu Ehren gekommen, und 1944 stiftete Stalin den Nachimow-Orden für Angehörige der sowjetischen Flotte. Das stand im Einklang mit der russischen Traditionspflege, die das Sowjetregime seit Ende der dreißiger Jahre betrieb und die auch in der Namensgebung des »Großen Vaterländischen Krieges« zum Ausdruck kam. [708]   Vor dem Krieg hätte Sajontschkowski so nicht über seine Familie reden können, ohne eine Haftstrafe oder Schlimmeres befürchten zu müssen. Als Abkömmling einer adeligen Familie gehörte er in den Gründungsjahren des Sowjetregimes zu den sogenannten »gewesenen Leuten«, die weder wählen noch studieren durften und unter dem Verdacht standen, der Konterrevolution anzugehören. Hinter Sajontschkowskis lapidarer Mitteilung im Interview – »Etwa sieben Jahre arbeitete ich in einer Fabrik als Hobelwerker. Trat 1931 in die Partei ein« – verbarg sich der Kampf eines jungen Mannes um Zugehörigkeit zum sowjetischen Klassensystem. Bis zu seiner Schließung 1918 besuchte Sajontschkowski das Moskauer Kadettenkorps, dann wechselte er für ein Jahr zur Kadettenschule in Kiew über. In den anschließenden Jahren verdingte er sich bei der Feuerwehr und der Eisenbahn, um dann mehrere Jahre lang in einer Moskauer Maschinenfabrik zu arbeiten. [709]   Von anderen jungen Menschen »klassenfremder« Herkunft ist bekannt, dass sie durch die Resozialisierung ihre »verseuchte« Vergangenheit von sich zu streifen versuchten. So mag Sajontschkowski auch beabsichtigt haben, als Fabrikarbeiter ein echtes »proletarisches« Bewusstsein zu erlangen. [710]   Vermutlich verfälschte er seine Biographie, als er beim Eintritt in die Partei nach seiner Familienherkunft befragt wurde.
    Während er in der Fabrik arbeitete, absolvierte Sajontschkowski ein Abendstudium der Geschichte am prestigeträchtigen Moskauer Institut für Geschichte, Philosophie und Literatur (IFLI). 1937 schloss er sein Studium erfolgreich ab und verteidigte drei Jahre später seine Doktorarbeit ( kandidatskaja ) über die slawophile »Kyrill und Method«-Geheimgesellschaft im 19. Jahrhundert.
    Nach der Schlacht von Stalingrad arbeitete Sajontschkowski weiter in der Abteilung für Feindpropaganda der 6. Armee, die am 5. Mai 1943 in die 5. Gardearmee umbenannt wurde. Im Anschluss an eine im Dezember 1943 erlittene Kopfverletzung wurde er als Gardemajor aus der Armee entlassen und kehrte zu seinem Historikerberuf zurück. Von 1944 bis 1952 leitete er die Manuskript-Abteilung der Staatlichen Leninbibliothek in Moskau. Ab 1948 lehrte Sajontschkowski als Dozent – und nach seiner Habilitation 1950 als Professor – an der Moskauer Staatlichen Universität. Er schrieb acht Monographien und edierte eine Vielzahl von Quelleneditionen, vorwiegend zu politischen und militärischen Aspekten der ausgehenden Zarenzeit, einem Forschungsgebiet, auf dem er unübertroffen geblieben ist. Die von ihm herausgegebene vielbändige Bibliographie von vorrevolutionären russischen Memoiren und Tagebüchern ist noch heute ein unverzichtbares Hilfsmittel für Russlandhistoriker. [711]   Als Hochschullehrer war Sajontschkowski schulbildend; er betreute eine Vielzahl von sowjetischen sowie von amerikanischen und japanischen Doktoranden, die sich zu Forschungen in der Sowjetunion aufhielten. 1968 erhielt er den McVane-Preis der Harvard University und wurde 1973 Ehrenmitglied der British Academy, durfte jedoch nicht ins Ausland reisen, um die Preise entgegenzunehmen. Zu Lebzeiten galt Sajontschkowskis quellennahe Forschung als ideologisch anstößig, weil sie sich außerhalb der geltenden ideologischen Schablonen bewegte. Dieser »positivistische« Blick prägt bereits seine Stalingrader Erzählung.
    Sajontschkowski verstarb am 30. 9. 1983 an Herzschwäche, während er in der Leninbibliothek an einer Geschichte des russischen Offizierkorps vor dem Ersten Weltkrieg

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