Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
vorgerückt war. Das 2. Bataillon der 57. Armee operierte an der linken Flanke. Wir beschossen den Gegner frontal. Danach gingen wir in Verteidigungsstellung. Als wir in den Stellungen saßen, was taten wir da? Wenn deutsche Flugzeuge flogen, schossen wir [Signal-]Raketen ab. Und die warfen Thermosbehälter mit Schokolade, Brot, Munition in unsere Stellungen. Verschiedene Lebensmittel warfen sie ab, viele Male warfen sie über Beketowka Proviant ab. Die ganze Zeit bekamen wir hier etwas von der Beute ab.
Am 31. Januar war ich im Gefechtsstand. Wir standen gerade am Schifferkrankenhaus. Zu dem Zeitpunkt umzingelten unsere Truppen General Paulus. Früh am Morgen stand ich auf, kam hierher, schaute mir an, wie er umzingelt worden war. Mit dem Politruk ging ich ein Auto suchen. Wir fanden eins, mit Benzin, mit allem. Kehrten zum Kompaniechef zurück. Zogen um, wohnten jetzt in diesem Kaufhaus im Keller.
Quelle: NA IRI RAN, f. 2, razd. III, op. 5, d. 14, l. 154–159.
Aus dem Russischen von Christiane Körner
Feindpropagandist: Hauptmann Pjotr Sajontschkowski
Einer der besten Kenner der Deutschen an der Front bei Stalingrad war Hauptmann Pjotr Andrejewitsch Sajontschkowski, Chefausbilder in der mit Feindpropaganda betrauten 7. Abteilung der Politabteilung der 66. Armee. [705] Die 66. Armee war nördlich von Stalingrad stationiert und nahm im September 1942 am vergeblichen Versuch mehrerer Armeen teil, den deutschen »Nordriegel« vor Stalingrad zu sprengen. [706] Erst im Laufe des Januars 1943 gelang es der Armee, nach Stalingrad vorzustoßen. Mit ihren stark dezimierten Einheiten eroberte sie am 2. Februar das von den Deutschen bis zuletzt verteidigte Traktorenwerk. Nach der Kapitulation des deutschen »Nordkessels« leitete Sajontschkowski die Verhöre der von seiner Armee eingebrachten kriegsgefangenen deutschen Offiziere und Soldaten. Die Verhörprotokolle befinden sich im Schlussteil dieses Bandes.
Der 39-jährige Hauptmann bekam den Posten in der Abteilung für Feindpropaganda wegen seiner guten Deutschkenntnisse, die er schon vor der Revolution in seinem Elternhaus und im Kadettenkorps erworben hatte. Um Erfolg zu haben, setzte die Feindpropaganda gründliche Kenntnisse des Gegners voraus – der Namen der jeweiligen Kommandeure, zu denen Sajontschkowski mit einem Sprachrohr sprach, um sie zum Aufgeben zu bewegen, aber auch der Denkweise und der Verhaltensformen der Deutschen. Das Ziel bestand darin, die kämpferische Moral der Feindsoldaten zu untergraben, sie zu »zersetzen«. [707] Im Gespräch mit den Historikern analysierte Sajontschowski die Soldaten der deutschen 6. Armee, ihre soziale Herkunft und ihren »politisch-moralischen Zustand«. Er beschrieb im Einzelnen, wie die Siegeszuversicht, die sich in Briefen und Tagebüchern vom Sommer 1942 ausdrückte, angesichts des heftigen sowjetischen Widerstands zunehmend Erschöpfung und Resignation wich. Besonders für die Zeit nach der Einkesselung schrieb er der sowjetischen Antikriegspropaganda eine hohe Wirkung zu. Kritisch äußerte sich Sajontschkowski zur »Räubermoral« der Deutschen, den von den Soldaten gestohlenen Kinderwagen und Säuglingshemden, die er nach der Beendigung der Kämpfe in verlassenen deutschen Unterständen vorfand. Diese Diebstähle führten Sajontschkowski vor Augen, wie innerlich zerrüttet der Gegner war, denn nur ein moralisch ungefestigter Soldat könne sich auf militärisch so sinnlose Art an der Zivilbevölkerung vergehen.
Mit ähnlich scharfem Blick kommentierte Sajontschkowski auch Mängel in der sowjetischen Kriegführung – die schlechte Abstimmung zwischen einzelnen Truppenteilen, die erbärmliche Leistung der sowjetischen Luftwaffe während der Anfangsphase der Schlacht und die verbreitete Disziplinlosigkeit innerhalb der Truppe. Zugleich vermerkte er anerkennend die hohe Disziplin und Ordnungsliebe der Deutschen.
Bevor Sajontschkowski sich 1941 freiwillig an die Front meldete, hatte er ein Geschichtsstudium mit anschließender Promotion abgeschlossen. In seiner Erzählung beobachtete er nicht nur als Zeitzeuge, sondern urteilte auch als Historiker. Er hatte von der Politabteilung erbeutete Briefe und Tagebücher von gefangenen oder gefallenen deutschen Soldaten vor sich liegen und unterzog diese Dokumente einer eingehenden Quellenkritik. An einer Stelle bemerkte er, dass ein deutscher Brief, aus dem er zitierte, nicht mit der Post geschickt, sondern einem anderen Soldaten mitgegeben worden
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