Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
sämtliche Munition verschossen hatte, auf die Erde und bewarf die herankommenden MPi-Schützen mit Steinen. Der Regimentskommandeur schoss selbst mit dem Maschinengewehr. Der Liebling der Division, Regimentskommandeur Michaljow, starb bei einem Bombentreffer auf seinen Gefechtsstand. »Unser Vater ist gefallen«, sagten die Rotarmisten. Major Kuschnarjow, der Michaljow ersetzte, verlegte den Gefechtsstand in eine Betonröhre unter den Werksgebäuden. Mehrere Stunden leitete Kuschnarjow das Gefecht am Eingang in diese Röhre, unterstützt von Stabschef Djatlenko und sechs weiteren Kommandeuren. Sie hatten einige Kisten mit Granaten, und mit diesen Granaten schlugen sie alle Attacken der deutschen MPi-Schützen ab.
Dieser in seiner Erbitterung nie gekannte Kampf dauerte ohne Unterbrechung mehrere Tage rund um die Uhr. Er ging nicht mehr um einzelne Häuser und Werksgebäude, er ging um jede einzelne Treppenstufe, um eine Ecke in einem engen Korridor, um eine einzelne Werkbank, um den Zwischenraum zwischen den Werkbänken, um ein Gasleitungsrohr. Kein einziger Mann der Division wich in diesem Kampf zurück. Und wenn die Deutschen einen Raum einnahmen, dann bedeutete dies, dass dort keine lebenden Rotarmisten mehr waren. Alle kämpften so wie der rothaarige hünenhafte Panzerkommandant, dessen Namen Tschamow nie erfuhr, wie der Pionier Kossitschenko, der den Stift mit den Zähnen aus der Granate zog, da seine linke Hand durchschossen war. Die Gefallenen hatten ihre Kraft gleichsam den Überlebenden vermacht, und es gab Minuten, da wurde eine Verteidigungsstellung von zehn aktiven Kämpfern erfolgreich gehalten, die ein ganzes Bataillon belegt hatte. Viele Male gingen die Werksgebäude von den Sibirjaken an die Deutschen über und wurden aufs Neue von den Sibirjaken erobert. In dieser Schlacht steigerten die Deutschen ihre Angriffe zu maximaler Spannung. Sie setzten ihre höchste Schlagkraft in der Hauptrichtung ein. Als hätten sie ein überschweres Gewicht gestemmt, überspannten sie irgendwelche inneren Federn, die ihre Durchschlagsramme in Gang gesetzt hatten.
Soldatisches Massengrab beim Werk »Roter Oktober«, Stalingrad 1943
Die Kurve des deutschen Ansturms fiel ab. Drei deutsche Divisionen, die 94., 305. und 389., kämpften gegen die Sibirjaken. Einhundertsiebzehn Infanterieattacken kosteten fünftausend deutsche Leben. Die Sibirjaken hielten diese übermenschliche Anspannung aus.
Unwillkürlich überlegt man, wie diese große Standfestigkeit geschmiedet worden ist. Hier zeigten sich der Volkscharakter, das hohe Bewusstsein der großen Verantwortung, der grimmige sibirische Starrsinn, die ausgezeichnete militärische und politische Ausbildung und die strenge Disziplin. Aber ich möchte noch einen Charakterzug erwähnen, der in diesem großen und tragischen Poem keine geringe Rolle gespielt hat – die erstaunlich reine Moral und die starke Liebe, die alle Menschen in der sibirischen Division verband. Der Geist spartanischer Bescheidenheit ist dem ganzen Führungspersonal der Division eigen. Er kommt in alltäglichen Kleinigkeiten zum Ausdruck, im Verzicht auf die gesetzlich festgesetzten hundert Gramm Wodka während der Stalingrader Kämpfe und in der vernünftigen Arbeitsbewältigung ohne große Worte. Die Liebe, die die Menschen in der Division verbindet, habe ich in der Trauer erkannt, mit der sie über gefallene Kameraden sprachen. Ich habe sie in den Worten des Rotarmisten aus Michaljows Regiment vernommen, der auf die Frage: »Wie geht es euch?« antwortete: »Ach, wie soll’s uns gehen – wir haben keinen Vater mehr.«
Ich habe sie erkannt in der rührenden Begegnung zwischen dem grauhaarigen Oberst Gurtjew und der Bataillonssanitäterin Soja Kalganowa, als sie nach der zweiten Verwundung zurückkehrte. »Guten Tag, mein liebes Mädchen«, sagte Gurtjew leise und ging mit ausgestreckten Armen auf das magere, geschorene Mädchen zu. So empfängt nur ein Vater seine eigene Tochter. Diese Liebe und dieser Glaube aneinander vollbrachten Wunder. Die sibirische Division wich nicht von ihrer Frontlinie und blickte kein einziges Mal zurück. Sie wusste: Hinter ihr war die Wolga, hinter ihr entschied sich das Schicksal Russlands.
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Die Gefangennahme von Feldmarschall Paulus
Nach Ablauf des von General Rokossowski unterbreiteten Kapitulationsangebots an das Oberkommando der 6. Armee (AOK 6) begann am 10. Januar die sowjetische Schlussoffensive gegen die
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