Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
eingeschlossenen Deutschen und ihre Verbündeten. Binnen zweier Wochen schrumpfte der deutsche »Kessel« auf das Stadtgebiet von Stalingrad zusammen. Am 26. Januar spaltete die Rote Armee den Gegner in einen Südkessel im Stadtzentrum und einen Nordkessel im Industriegebiet. Die sowjetische Militärführung vermutete das AOK 6 irgendwo im Stadtzentrum, war sich aber nicht im Klaren, ob Generaloberst Paulus sich noch in Stalingrad aufhielt oder bereits ausgeflogen worden war. Am 28. Januar drang die aus der Reserve geholte 38. Schützenbrigade (mot) gemeinsam mit der 29. und der 36. Schützendivision von Süden her in das Stadtzentrum von Stalingrad vor. [472] In der Nacht zum 31. Januar stießen Angehörige dieser Brigade auf deutsche Parlamentäre, die sie in den Keller des Kaufhauses mitnahmen, wo sie zu ihrer Überraschung Paulus und seinen Stab vorfanden.
Der Kaufhauskeller diente in den letzten Januartagen der von Generalmajor Friedrich Roske kommandierten 71. ID [Infanteriedivision] als Befehlsstand. [473] Paulus und der Reststab des AOK 6 – 250 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften [474] – suchten hier in den letzten Januartagen Zuflucht, nachdem sie ihre vorherigen beiden Quartiere in Gumrak westlich der Stadt und in einer Balka am südwestlichen Stadtrand hatten aufgeben müssen. [475] Paulus, das bezeugten viele aus seinem Umkreis später, konnte sich nicht entschließen, in Entgegensetzung zu Hitlers Durchhaltebefehl zu kapitulieren. Seinen Kommandeuren ließ er am 29. Januar mitteilen, dass sie in ihren Befehlsabschnitten nach eigenem Ermessen handeln könnten. [476] Andererseits folgte Paulus auch nicht Hitlers Vorgabe, den »Heldentod« zu suchen. Hitler ernannte Paulus in der Nacht zum 31. Januar zum Generalfeldmarschall. Durch die Blume war das eine Aufforderung zum Selbstmord; seit den napoleonischen Kriegen hatte sich kein preußisch-deutscher Feldmarschall in Gefangenschaft begeben. Paulus reagierte auf seine Beförderung weitgehend teilnahmslos. Die sowjetischen Offiziere im Kaufhauskeller fanden ihn in seinem Zimmer auf dem Bett liegend vor, während in Roskes Zimmer nebenan die Kapitulationsverhandlungen liefen. Roske und seinen Stabsoffizieren gegenüber hatte sich Paulus zuvor zu einer »Privatperson« erklärt und zu verstehen geben, dass er für die Waffenniederlegung nicht zuständig sei.
Am Abend des 29. Januars meldete Roske, dass die Verteidigung des Kaufhauses nur noch für kurze Zeit möglich sei. Armeestabschef General Arthur Schmidt erklärte, dass am 30. Januar, dem 10. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Kampf nicht eingestellt werden dürfe. Trotzdem liefen an dem Tag mehrere Versuche deutscher Offiziere, mit dem Gegner Kontakt aufzunehmen, um eine Beendigung der Kämpfe herbeizuführen. Oberst Ludwig, Kommandeur des Artillerieregiments der 14. Panzerdivision, wurde in den Abendstunden von einem Bataillonskommandeur der 29. Schützendivision empfangen. Als Ludwig später Generalstabschef Schmidt über seine eigenmächtige Handlung Meldung erstattete, erhielt er von Schmidt statt eines Verweises die Aufforderung, dafür zu sorgen, dass am kommenden Morgen sowjetische Parlamentäre auch zum AOK 6 kämen. [477]
Die Stalingrad-Protokolle zeigen erstmals, wie die sowjetische Seite die deutschen Bemühungen um eine Kampfeinstellung wahrnahm und auf sie einging. Sie bestätigen, dass am 30. und 31. Januar diverse Verhandlungen zwischen Vertretern verschiedener Einheiten liefen, und sie erklären so auch die Verwirrung, die sich ergab, als die Soldaten der 38. Schützenbrigade am Morgen des 31. Januar an dem Fleck erschienen, wo Oberst Ludwig in Absprache mit dem Kommando der 29. Schützendivision hochrangige sowjetische Parlamentäre erwartete. Beträchtlich war auch die Rivalität unter den sowjetischen Einheiten, die miteinander wetteiferten, den deutschen Feldmarschall aufzuspüren. Zu Wort kommen in den Interviews neben den stolzen Soldaten der 38. Schützenbrigade auch mehrere Vertreter der 36. Schützendivision, die bei der Jagd nach der wichtigsten Trophäe von Stalingrad den Kürzeren zogen.
Die Begegnung im Kaufhauskeller war für die meisten sowjetischen Beteiligten das erste Mal, dass sie deutsche Offiziere aus nächster Nähe sahen. Plastisch zum Ausdruck kommen die Vorstellungen, die sich die Sowjets von den Deutschen im Krieg machten. Getreu dem marxistischen Klassenschema glaubten die meisten
Weitere Kostenlose Bücher