Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
»Es sei denn, Sie kennen einen Arzt hier in der Nähe, der ihn noch heute Nacht behandeln würde?«
Der Mann warf einen Blick auf Jonathan. »Der arme Kerl sieht ja schon halb tot aus. Vielleicht ist er ein entflohener Sklave. Ich kenne keine Ärzte in der Nähe, die ihn sich um diese Zeit noch ansehen würden. Und auch die Zimmer hier sind alle schon vergeben.« Er nahm den Schilling, den Jean ihm reichte. »Auf der Straße sind Sie um diese Zeit nicht sicher. Sie können den Rest der Nacht im Heuschober verbringen. Dort ist es warm und trocken.«
»Danke.« Jean schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das den Mann für einen Moment zum Blinzeln brachte. Dann nahm er sich zusammen, zündete eine zweite Laterne an und ging in die Stallungen voran. Über einen langen Gang zwischen dösenden Pferden rechts und links erreichten sie eine Tür, die in den Heuschober führte. Hier gab es weiche Heuballen, die als Unterlage dienen konnten, und einen Stapel grob gewebter Pferdedecken.
»Wenn Sie darauf achten, dass kein Blut daraufkommt, können Sie sich mit den Decken Betten im Heu zurechtmachen.«
»Wäre es möglich, dass Sie uns die Laterne dalassen?« Jean gab ihm noch einen Schilling und breitete eine Pferdedecke auf dem Heu aus.
Der Mann nahm das Geld und hängte die Laterne an einen Haken an der Wand. »Schlafen Sie gut, Madam.« Dann zögerte er und heftete den Blick auf Jonathans geschundenen Körper, als Nikolai ihn auf die Decke legte. »Soll ich Ihnen einen Eimer Wasser bringen, damit Sie den Jungen säubern können?«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, antwortete Jean mit einem erfreuten Lächeln.
Der Mann ging, um das Wasser zu holen, und Nikolai sagte: »Was für eine Art Magie hast du benutzt, um den Kerl so hilfsbereit zu machen?«
»Eine sehr alte Art Magie«, erwiderte sie schmunzelnd. »Die gleiche, die Eva ihm Garten Eden angewandt hat.«
Auch Nikolai lächelte ein wenig. »Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?«
»Du kannst versuchen, Jonathan emotionale Wärme zu vermitteln - das Gefühl, dass sich jemand seiner annimmt.«
Nikolai hielt schweigend die Hand des Jungen, während Jean seine Verletzungen genauer untersuchte. Selbst mit ihren neuen magischen Techniken konnte sie jedoch weder Jonathans gebrochene Knochen noch seine furchtbar zugerichteten Augen heilen. Er würde sich glücklich schätzen können, wenn er nicht sein Augenlicht verlor. Aber sie konnte seine verlöschende Lebenskraft stabilisieren. Als der Mann, der im Hof gewacht hatte, einen Eimer Wasser und saubere Tücher brachte, entfernte sie das Blut und den Schmutz von Jonathans schlimmsten Wunden und legte ihm Verbände an.
Zum Schluss hüllte sie Jonathan in einen Kokon aus körperlicher Wärme ein, um ihn vor der Kälte des Schocks zu schützen. Der Junge war gefährlich nahe daran gewesen, seinem Elend zu erliegen. Was für eine Art von Leben musste er geführt haben, wenn er regelmäßig von einem betrunkenen Rohling verprügelt worden war? Aber es bestand noch Hoffnung für ihn. Jean spürte, dass ihn ein glücklicheres, freieres Leben erwartete, wenn er diese Krise überlebte.
Als sie für ihn getan hatte, was sie konnte, deckte sie ihn mit einer weiteren Decke zu und legte sich neben ihn auf das Heu. »Er wird überleben, glaube ich, auch wenn er lange brauchen wird, um zu genesen.« Sie fuhr sich mit der Hand über ihre müden Augen. »Wie kann ein Mensch nur so grausam zu einem anderen sein?«
»Der Mensch ist gar nicht so weit entfernt vom Tier.« Nikolai rückte näher, sodass er neben Jean im Heu lag, breitete eine Decke über sie und sich selbst und zog Jean in seine Armbeuge. »Kannst du mir jetzt mehr über unsere Mission erzählen?«
»Darüber sprechen wir besser nicht vor Jonathan. Meine Mutter war der Meinung, dass Menschen, die bewusstlos zu sein scheinen, von dem, was in ihrer Gegenwart gesagt wird, aufgerüttelt werden können«, erwiderte sie schläfrig.
»Dann muss ich mich gedulden. Die Disziplin, die das erfordert, wird mir wahrscheinlich sogar guttun.« Nikolai zog Jean noch fester an sich. »Schlaf jetzt, Partner. Du hattest einen anstrengenden Tag.«
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und entspannte sich. Nikolais warmer Atem streifte ihre Schläfe, als auch er mit einem tiefen Ausatmen zur Ruhe kam. Sie liebte seinen Duft, der sie an Wüstenwind und Sonnenschein erinnerte.
Seine Wärme und Kraft brachten sie gefährlich nahe daran, vor Dankbarkeit zu weinen. Nikolai und sie
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