Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
kommt mir mehr wie eine Gasse vor.« Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Dunkel. »Da vorne sieht es heller aus, also ist das vielleicht eine größere Straße.«
Sie wandten sich in diese Richtung. »War deine Reise hierher etwa so wie das, was du bei deiner Initiation erlebt hast?«
»So ähnlich, ja, aber das hier war noch schlimmer.« Er schwieg einen Moment gedankenvoll. »Ich frage mich, ob man, um durch die Zeit zu reisen, in eine von Adias anderen Welten gezogen wird, um sich dann hier zur rechten Zeit zu materialisieren.«
Jean überlegte. »Die Theorie ist gut. Ich möchte mir eine Vorstellung davon machen können, was wir tun. In eine Welt eintreten, die neben der unseren liegt, sich an einen anderen Ort begeben und dann in einer neuen Zeit in unserer Welt wieder hervortreten - so ähnlich stelle ich mir das vor.«
»Hoffen wir, dass die Reise durch Übung leichter wird und dass wir genügend Macht besitzen, um die nächste selbstständig anzutreten«, erwiderte er pragmatisch.
»Falls nicht, haben wir die Adresse der afrikanischen Gemeinde im East End, die Adia mir gegeben hat. Es gibt dort einen Priester, der zu Adias Zeit schon sehr alt war, aber viele Jahre in London gelebt hat. Sie sagte, wir könnten uns an ihn wenden, falls wir Hilfe brauchen. Er war ein Mitglied des Kreises, der sie zu uns geschickt hat.«
»Es ist gut zu wissen, dass Hilfe in der Nähe ist, doch ich hoffe, dass wir sie nicht brauchen werden.« Nikolai furchte die Brauen, als sie das Ende der Straße erreichten. »Die Landkarte in meinem Kopf sagt, dass wir dort sind, wo London sich befinden müsste. Die größere Frage ist, in welcher Zeit sind wir?«
Jean nickte schweigend. Auf dieser breiteren Straße hingen Laternen vor einigen Häusern, was ein bisschen half. Es sah hier nicht anders aus als in dem London, das sie kannte. Stirnrunzelnd blickte sie auf die Häuserecken rechts und links der Straße. »Es wurde viel davon geredet, Schilder mit Straßennamen an den Ecken anzubringen, aber das scheint selbst heute noch nicht geschehen zu sein.«
Sie trat ein wenig näher an Nikolai heran. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie verwirrend es sein würde, weder zu wissen, wo sie waren, noch das Datum ihrer Ankunft dort zu kennen. Gott sei Dank waren sie wenigstens zu zweit!
Als sie nach links blickte, sah sie einen zerlumpten Mann in ihre Richtung taumeln. »Helft mir«, keuchte er, bevor er im Straßenschmutz zusammenbrach.
Stöhnend versuchte er, sich wieder aufzurichten, aber er war offenbar zu schwach dazu. Jean dicht hinter sich, lief Nikolai zu ihm. Als er sich neben den Mann kniete, erzeugte Jean ein kleines magisches Licht auf ihrer Hand und hielt es vor das dunkelhäutige Gesicht. »Er ist kaum mehr als ein Junge!«, rief sie, als sie sah, dass er höchstens sechzehn oder siebzehn sein konnte.
»Ein afrikanischer Junge, der übel zugerichtet worden ist«, sagte Nikolai grimmig. Mit einem Taschentuch begann er, das Blut von den Augen des Verletzten abzutupfen. Als er damit fertig war, schlug der Junge die Augen auf und sah benommen zu ihnen auf.
»Wir werden dir helfen«, versicherte Jean und versuchte, ihm Wärme und Ermunterung zu übermitteln. »Bist du von Straßenräubern überfallen worden?«
Der Junge blinzelte sie düster an. »Master Lisle war das«, sagte er mit geschwollenen Lippen. »Der Master hat Jonathan mit Pistolenlauf geschlagen, bis Schaft zerbricht.«
»Warum?«, fragte Jean entsetzt.
»Der Master ist betrunken«, murmelte der Junge. »Er schlägt mich immer, wenn betrunken. Sagt, ich wäre ein Taugenichts, und er hätte nicht das Geld ausgeben sollen, mich von Barbados mitzubringen. Lohnt sich nicht, mich zu ernähren, sagt er. Hat mich getreten und gesagt, ich soll verschwinden. Und das habe ich getan.«
Nikolai fluchte. »Dann bist du also kein Ausreißer«, stellte er mit einer Stimme fest, die beherrschter war als sein Gesichtsausdruck. »Dein Name ist Jonathan, sagst du?«
»Jonathan Strong«, erwiderte der Junge bedrückt. »Aber Master tötet mich, Sir. Ich bald tot.«
»Das wird er nicht!«, entgegnete Jean mit schmalen Lippen. Sie hielt den Kopf des Jungen zwischen ihren Händen und ließ heilende Energie auf ihn überströmen. Noch lebenswichtiger jedoch waren die Hoffnung und der Wunsch zu leben, die sie ihm suggerierte. Wie immer war ihre Magie am stärksten, wenn die Not am größten war. Sie vereinte ihren Wunsch zu helfen mit ihrer Fähigkeit, ihre Macht gezielt
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