Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
zu lenken, und spürte, dass ihre Heilkräfte sich vergrößert hatten. Hoffentlich waren sie auch groß genug, um diesem armen Jungen zu helfen!
Mit einem Seufzer schloss er die Augen und erschlaffte in Nikolais Armen.
»Ich bin keine mächtige Heilerin wie meine Mutter, aber ich glaube, die schlimmsten Blutungen habe ich gestillt.« Jean hockte sich auf die Fersen. »Adia hat mir von diesem jungen Mann erzählt. Nachdem sein Herr, ein Anwalt namens David Lisle, ihn halb umgebracht hatte, schaffte Jonathan es, die Praxis eines Chirurgen namens William Sharp zu erreichen. Sharp ist der Arzt des Königs, und er und seine Familie sind alle Musiker, die auf einem Kahn im Land herumreisen und musizieren.«
Nikolai starrte sie an. »Das hast du dir ausgedacht.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Jean. »Als er vor der Praxis wartete, wurde er von dem Bruder des Arztes, Mr. Granville Sharp, bemerkt. Nachdem der Junge ärztlich versorgt war, brachten die Brüder ihn zum Hospital St. Bart, damit er sich dort erholen konnte.«
»Dann ist es also unsere Aufgabe, diesen Lisle zu finden und ihn zu töten?«, fragte Nikolai mit einem Unheil verkündenden Lächeln. »Ich hätte nichts dagegen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, wir sollen ihn zu den Brüdern Sharp bringen, weil das später zu bedeutenden rechtlichen Fortschritten führen wird. Ich erkläre es dir nachher näher, doch zuerst müssen wir Mr. Strong ins Warme schaffen, bevor er sich bei dieser feuchten Kälte zu seinen anderen Verletzungen auch noch eine Lungenentzündung holt.«
»Vielleicht kann ich Lisle ja später töten.« Nikolai hob den bewusstlosen Jungen behutsam auf. »Wo finden wir die Praxis dieses Arztes?«
»Ich bin mir nicht sicher - sie ist irgendwo im East End, glaube ich.«
»Und wo sind wir?«
»Ich werde sehen, ob ich irgendwelche Orientierungspunkte finde.« Jean ging zu der Kreuzung und ließ ihren Blick über die Silhouette der Stadt gleiten. »Ich denke, wir sind in der Nähe des Towers, was bedeutet, dass auch der Fluss nicht weit entfernt sein kann.«
Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie in Adias Bericht über diesen Zwischenfall gefunden hatte, aber dann gab sie es auf und zog ihre Kopie der Aufzeichnungen hervor. Nachdem sie mithilfe eines kleinen magischen Lichts auf ihrer Hand gelesen hatte, sagte sie: »William Sharps Praxis ist ganz hier in der Nähe, auf der Mincing Lane. Wir müssen dafür sorgen, dass Jonathan Strong die Nacht überlebt, und ihn dann morgen in die Klinik bringen. Adias Aufzeichnungen nach fand dieser Vorfall 1765 statt.«
»Also nur ein Dutzend Jahre in der Zukunft. Komisch, aber das finde ich irgendwie beruhigend.« Mehrere Kirchenglocken begannen, in krasser Disharmonie zu schlagen. »Zwei Uhr«, sagte Nikolai. »Glaubst du, wir könnten eine Herberge in der Nähe finden, die die ganze Nacht geöffnet ist?«
»Es gibt mehrere größere Straßen in der Nähe, da müsste sich eigentlich ein Gasthaus oder ein Mietstall befinden.« Jean richtete sich auf und klopfte ihre Röcke ab. Nachdem sie die Dokumente wieder in die Tasche gesteckt hatte, hängte sie sie über ihre Schulter. »Welche Richtung, Captain?«
Nikolai dachte einen Moment nach. »Nach rechts«, entschied er dann, und sie schlugen diese Richtung ein. Jonathan Strong war so dünn, dass sein Gewicht Nikolai nicht im Geringsten zu belasten schien.
Zwei Häuserblocks weiter westlich fanden sie eine kleine Postkutschenstation. Durch einen Torbogen betraten sie den Hof. Linker Hand lagen die Ställe, vor denen ein schläfriger Mann in einem hölzernen Lehnstuhl saß und Hof und Herberge bewachte. Eine Laterne über der Stalltür offenbarte, dass er eine große Flasche in der einen Hand und eine Tonpfeife in der anderen hielt.
»Hier sind wir richtig, glaube ich«, sagte Jean leise. »Lass mich mit ihm reden.«
Sie ging auf den Mann zu, der sofort seine Flasche wegstellte und sich erhob. Sein Gesichtsausdruck war ebenso misstrauisch wie neugierig. Jean blickte mit ernster Miene zu ihm auf. »Sir, könnten wir hier vielleicht ein Zimmer für den Rest der Nacht mieten? Mein Mann und ich waren auf der Suche nach einer Unterkunft, als wir diesen armen, misshandelten Jungen auf der Straße fanden. Wir konnten ihn in seinem Zustand nicht dort liegen lassen, deshalb dachte ich, ich könnte seine Wunden zunächst einmal verbinden, bevor wir ihn morgen früh in ein Hospital bringen.« Sie ließ ihn ein Geldstück in ihrer Hand sehen.
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