Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
aus der Praxis kamen. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unübersehbar, obwohl der jüngere Mann härtere und schärfere Züge hatte. Sie unterhielten sich miteinander, aber als sie Jonathan Strong erblickten, versteiften sie sich, als wären sie zutiefst schockiert über seinen Zustand.
Sie stellten dem Jungen Fragen. Obwohl Nikolai und Jean zu weit entfernt waren, um das Gesagte zu verstehen, schienen die beiden Herren sogar noch schockierter über Jonathans Antworten zu sein. Der jüngere Mann mit dem scharf geschnittenen Gesicht nahm Jonathans Arm und half ihm in das Haus, während der andere den Patienten erklärte, dass er sich zuerst um diesen Notfall kümmern müsse. Keiner, der Jonathans Zustand gesehen hatte, widersprach.
Jean atmete erleichtert auf. »Bisher ist alles genauso, wie Adia gesagt hat, was mich zuversichtlich stimmt, dass auch andere Ereignisse sich so entwickeln werden, wie sie erzählte. Die Sharps werden Jonathan verarzten und ihn dann ins Hospital St. Bart bringen. Dort wird er Monate liegen, aber wenn er wieder auf den Beinen ist, werden die Sharps für ihn einen Arbeitsplatz als Diener finden, und er wird dort als freier Mann arbeiten.«
Nikolai runzelte die Stirn. »Das freut mich für Jonathan, doch wie sollte sich das auf die Zukunft der Sklaverei auswirken?«
»In ein, zwei Jahren wird David Lisle Jonathan bei der Arbeit sehen«, sagte Jean grimmig. »Da er dann kräftig und gesund sein wird, wird Lisle begreifen, dass sein einstiger Sklave Geld wert ist, und ihn heimlich an einen anderen westindischen Plantagenbesitzer verkaufen.«
Nikolai fluchte. »Bist du sicher, dass ich Lisle nicht einfach umbringen kann?«
»Leider nicht. Lisle wird zwei Sklavenjäger beauftragen, seinen ›Besitz‹ zurückzuholen. Während Mr. Strong im Gefängnis sitzt und auf den Abtransport zu seinem Käufer wartet, wird es ihm gelingen, Mr. Granville Sharp eine Nachricht zukommen zu lassen. Mr. Sharp wird so empört sein, dass er die Angelegenheit Londons Oberbürgermeister vortragen wird. Lisle kann es sich nicht leisten, vor Gericht zu gehen, und Mr. Strong wird freigelassen werden. Nachdem Mr. Sharp so die Augen für die Übel der Sklaverei geöffnet wurden, wird er sein Leben lang dagegen kämpfen. Im Moment ist der Status der Sklaven in England noch unklar, aber Mr. Sharp wird eingreifen, um andere Männer in ähnlichen Situationen wie Jonathan Strongs zu verteidigen. Und irgendwann wird dank Sharps Arbeit ein Gericht einen Beschluss fassen, der grundsätzlich jeden Sklaven in England zu einem freien Mann erklärt.«
Nikolai atmete tief aus. »Das wird in der Tat ein großer Fortschritt sein. Dafür lohnt es sich dann wohl auch, diesen Lisle am Leben zu lassen.«
»Ich kann nur hoffen, dass er im nächsten Leben seine Strafe erhält, wenn schon nicht in diesem.« Sie zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ich frage mich, wie Jonathan Strong zu dieser Arztpraxis gefunden hätte, wenn wir hier nicht erschienen wären.«
Genauso ratlos wie sie, schüttelte Nikolai den Kopf und zog die Schultern hoch. »Vielleicht hätte jemand anderes ihm geholfen. Oder er hätte es allein geschafft. Oder vielleicht mussten wir hier sein, um zu helfen. Das Letztere ist wohl das Wahrscheinlichste, da er ohne deine Heilkräfte vielleicht gestorben wäre.«
»Ein Teil von mir möchte verstehen, wie diese Zeitreise-Geschichte funktioniert, während ein anderer Teil von mir Angst davor hat, mehr darüber zu erfahren.« Sie aß den letzten Bissen von ihrem Kuchen. »Was tun wir nun, da Mr. Strong in guten Händen ist? Sind wir bereit, die nächste Zauberperle auszuprobieren?«
Nikolai überlegte. »Trotz meiner allgemein bekannten Ungeduld würde ich hier gern ein bisschen länger bleiben. Da ich vorher noch nie in England war, möchte ich einen besseren Eindruck von dem Land gewinnen. Und etwas über diesen Zeitabschnitt zu lernen, müsste uns die Anpassung erleichtern, falls wir noch weiter in die Zukunft reisen.«
»Das ist eine gute Idee. Wir können uns einen hübschen, anständigen Gasthof suchen, in der Innenstadt vielleicht oder in Westminster.« Jean seufzte sehnsüchtig. »Ich wüsste gern, ob meine Familie sich in London aufhält. Duncans Kinder müssen inzwischen ja schon fast erwachsen sein!«
Nikolai warf ihr einen scharfen Blick zu. »Es wäre nicht klug, sie zu besuchen.«
»Das weiß ich.« Jean drehte sich um und zog Nikolai mit. »Aber es ist schwer, nicht an sie zu denken. Lass uns ein
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