Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Franzosen trotz der britischen Marineblockade Frankreichs einen sehr profitablen Handel unterhielten, indem sie Schiffe neutraler Nationen wie Amerika benutzten. Würde unsere Marine solche Schiffe kapern, würde das die Franzosen nicht nur behindern, sondern auch sehr gewinnbringend für die Schiffe sein, die solche Fänge machten. Stephen überredete Wilberforce, eine Gesetzesvorlage einzubringen, nach der britischen Schiffen erlaubt werden sollte, alle neutralen Schiffe, die Frankreich beistehen, zu kapern. Das klang sehr patriotisch und wurde ohne große Umstände verabschiedet.«
Mary reichte die Platte mit dem Kuchen wieder herum. Sowohl Jean als auch Nikolai nahmen sich noch ein Stück. Jean war froh zu sehen, dass nicht nur sie beinahe ausgehungert war. »Was die meisten Leute nicht erkannten«, fuhr Mary fort, »ist, dass viele dieser sogenannten neutralen Schiffe in Wirklichkeit britische sind. Das einzig Amerikanische an ihnen ist die Flagge. Und so kam es, dass Mr. Stephens Gesetz im Endeffekt den britischen Sklavenhandel behindert!«
»Ist das nicht köstlich?«, fragte Bethany. »Obwohl die Pro-Abolitions-Gruppierungen während der Neunziger unterdrückt wurden, stellte sich heraus, dass die Gefühle der Menschen sich nicht verändert hatten. Die Bewegung ist wieder da, und zwar stärker denn je. Bei der letzten Parlamentswahl wurden mehr abolitionistische Abgeordnete ins Amt gewählt. Wilberforces Gesetzesvorlage zur Abschaffung der Sklaverei wird in ebendiesem Moment debattiert, und bald wird es eine Abstimmung darüber geben.«
Nikolai schloss die Augen. »Die Pro- und Antisklaverei-Geister liegen in tödlichem Kampf miteinander, nicht? Bei so viel leidenschaftlichem Engagement auf beiden Seiten muss wahnsinnig viel Energie im Spiel sein.«
»Das schützende Netz ist heute stärker als bei eurem letzten Besuch, aber es wird auch seine ganze Kraft benötigen, um den Dämon während der Abstimmung in Schach zu halten«, meinte Mary ernst. »Wenn es ihrem eigenen Gewissen überlassen bliebe, würde die Mehrheit der Abgeordneten für das Gesetz stimmen, glaube ich. Wir müssen also dafür sorgen, dass nichts geschieht, was ihren Geist vergiften und ihre Entscheidung ändern könnte.«
»Und da kommen wir ins Spiel.« Jean war ganz ruhig, als sie ihre Tasse wegstellte. »Wenn das Gesetz vom Unterhaus beschlossen wird, wird es dann eine Chance haben, auch im Oberhaus durchzukommen und vom König sanktioniert zu werden?«
»Wir haben allen Grund zu glauben, dass die Bewegung so stark geworden ist, dass beide zustimmen werden.« Bethany biss sich auf die Lippe. »Zumindest sage ich mir das ständig, weil ich nichts anderes glauben will. Aber wir werden es schon bald genug erfahren, denke ich. Falls ihr so weit seid, können wir jetzt nach Westminster fahren.«
»Dürften wir uns vorher kurz noch frisch machen?«, bat Jean.
»Oh, entschuldigt, daran hätte ich wirklich selbst denken sollen«, antwortete Bethany. »Ihr könnt das Gästezimmer benutzen, in dem ihr angekommen seid.«
»Die Genauigkeit der Vorfahren ist wirklich ganz erstaunlich«, sagte Nikolai, als er sich erhob. »Wie wahrscheinlich ist es, dass heute abgestimmt wird? Die Energien beider Seiten sind nämlich sehr, sehr intensiv.«
Bethany nickte. »Die Abstimmung müsste in den nächsten Stunden stattfinden. Ich dachte, ich bringe euch zu derselben Loge, in der ihr schon einmal zugesehen habt. Wäre euch das recht?«
»Aber ja.« Jean stand auf. »Hoffen wir, dass wir nicht mehr tun müssen als zuzusehen.«
Nikolai fand es ein bisschen unheimlich, zu dem Ort ihres letzten Parlamentsbesuchs zurückzukehren. Die private Loge war dieselbe, nur ein bisschen schäbiger. Die Galerien waren genauso überfüllt wie damals, nur die Kleidung der Zuschauer hatte sich verändert. Viele Gesichter waren dieselben, wenn auch beinahe zwanzig Jahre älter. Sogar die Energien im Hintergrund waren die gleichen, obwohl sie jetzt gefährlich intensiv waren.
Nachdem Nikolai mit Jean, Bethany und Mary Platz genommen hatte, schloss er die Augen und konzentrierte sich auf die duellierenden Entitäten. Das Schutznetz glich die Macht des Dämons aus, was allerdings überhaupt nicht leicht war. Die Pro-Sklaverei-Energie war so angespannt und nervös, als spürte sie, dass ihre Existenz bedroht war. Nikolai vertiefte sich noch mehr in seine Betrachtungen und ignorierte die Debatte unten im Saal, bis er fand, wonach er suchte. Und dann stockte ihm der
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