Die Stasi Lebt
Der Theologe deutet an, »eine relevante Größe von Leuten« habe sich gemeldet, die sich gleichfalls von der Stasi traktiert fühlten. Entsprechende Angst kenne er nicht nur von den Prominenten Fuchs und Pannach, »sondern sie ist bei vielen, vielen Personen da«. So wie er für möglich hält, »dass wir mit dem Röntgengerät auf der völlig falschen Spur sind«, schließt er im gleichen Atemzug nicht aus, dass es »Strontiumbeimischung ins Essen« gegeben haben könnte; eine weitere tödliche Gift variante. Für Mothes ist »Furcht vor Verstrahlung eines der am häufigsten vorkommenden Phänomene im Hinblick auf diktatorische Systeme«. Er mache darauf aufmerksam, das Phänomen »wirke bis heute in Alpträumen nach«, und ist sich gewiss, dass selbst ein Beweis, es habe nie Verstrahlung gegeben, dem Spuk kein Ende machen könne. Über den Untergang hinaus verbreitet die Stasi mabusehaften Schrecken.
Zwei Dinge hätte Jenas früherer Jugenddekan Thomas Auerbach für sich ausgeschlossen. Dass er einmal den Sarg von Jürgen Fuchs mittragen müsste und dass er bei der Berliner Gauck-Behörde Experte für Terrorpläne der Stasi würde. Sein chaotisches Büro ist verqualmt, das Plakat zur Demo vor der »Stasi-Zentrale Ruschestraße« kaum zu erkennen. Der Vikar saß einst stundenlang im Fotoraum des Gefängnisses Gera eingeschlossen, ahnte nichts vom Röntgengerät hinter sich. Er gesteht, man habe denBestrahlungs-Verdacht lange öffentlich nicht ausgesprochen, »so ungeheuerlich ist das«. »Man wird schnell als paranoid in die Ecke gestellt, wenn man so etwas behauptet.« Die Klarstellung scheint ihm angesichts des wenig Greifbaren notwendig. Der Hinweis, »ich werde bestrahlt«, gilt Ärzten oft als dem Wahn verwandte Erscheinung.
Das Stasi-Labyrinth ergründete Auerbach wie nur wenige. Jahrelanges Studium des Geheimdienstes lehrte ihn, »die perfide Zersetzungsstrategie in der Gesamtschau« zu sehen. Zwar seien etwaige Befehle bisher nicht gefunden worden, aber bei der »Verschriftungswut« des MfS könne Einschlägiges jederzeit auftauchen. Wichtige Aktenbestände, etwa die der MfS-Gefängnisse, seien gar nicht erschlossen. Was seine private Meinung betreffe: »Ich bin überzeugt davon, dass die Truppe so was auch gemacht und irgendwann ausprobiert hat.« Auerbach wirkt entschlossen genug, der Stasi das gruselige Geheimnis zu entreißen, die fehlenden Puzzleteile zu finden, sofern es sie gibt. Kraft Amtes ist er aber gehalten, sich nicht an den Spekulaktionen über etwelche Röntgengeräte zu beteiligen. »Wir wollen das Ganze ein bisschen niedriger halten.« Er referiert Gaucks Leitlinie und klingt nicht begeistert.
Sein Kumpel Jürgen war ein baumstarker Kerl. Fuchs’ stattliche Gestalt mochte darüber hinwegtäuschen, wie überaus verwundbar der Kämpfer war, gleichermaßen unbeugsam und zerbrechlich. Tief empfundene Erniedrigung durch Stasi-Willkür ist das Leitmotiv seiner Bücher. Ein »hypermnestisches Gedächtnis«, von dem die Opferforschung spricht, speicherte die demütigende Erfahrung, verlängerte die Qual ins Unendliche. Eine Vertraute sagt: »Er war mit den Schockgeschichten noch nicht fertig.« Verzehrende Entschlossenheit zog den Rechercheur tief und tiefer ins Schattenreich, brachte Beweis um Beweis für seine»Zersetzungs«-Theorie hervor. Gegen ihn fing die »Zersetzung« mit der Operation »Spinne« an, man kann sagen, im Leben wie im Sterben gab es für ihn keine Befreiung aus ihrem Netz. Auf teuflische Weise blieb er Gefangener der Häscher, die ob seiner süchtigen Fahndung nach, ja: Wahrheit, Macht über ihn behielten, durch die Akten gefangen nahmen. Das Eigene kam vielleicht zu kurz, ein »Kohlhaas«-Gefühl war dem Familienmenschen nicht fremd, wenn er formulierte: »Was suche ich denn? Sauereien suche ich …«
Während des Studiums kreuzte sich der Weg von Fuchs verhängnisvoll mit dem von Stasi-Oberstleutnant G. Gelegentlich umwarben sie das gleiche Mädchen. Jürgen besaß ein Grundvertrauen, es dauerte, bis er begriff, dass dieses Talent für Heimlichkeit ihn spionierend umschlich. G. trug schulterlange Haare wie die Regimegegner. Mit ihm, im Roman »der Schöne« genannt, treffen wir uns am Bahnhof Potsdam. Erkennungszeichen Tagesspiegel. Mielkes Mann erinnert sich »an angenehme Gespräche« mit Fuchs: Brecht, Vietnamkrieg, man hatte sich was zu sagen. Leicht kommt G. von den Lippen, er habe »gewisse Affinität« zum Poetenzirkel gehabt. Wegen des »ambivalenten
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