Die Stasi Lebt
Studienkollege G., Stasi-Oberstleutnant und Experte für »Operative Psychologie«, die Methodik der anderen Seite: Es habe zum »Maßnahmengebilde« gehört, Missliebige derart unter Druck zu setzen, dass sie die Angst nicht mehr loswurden – selbst wenn die Stasi gar keinen Druck machte.
Die Leidensgeschichte des Jürgen Fuchs ist das eine. Die Geschichte eines unheimlichen Verdachts das andere. Unklar ist, ob beide Geschichten zusammenpassen. Seine Verstrahlungs-Theorie ist nicht das Hirngespinst des schweren Abschiednehmens, im engsten Kreis sprach er längst darüber. Dem Tod nah, autorisierte er Freunde, öffentlich darüber zu reden. Die Bürgerrechtsszene treibt eh seit der Wende die Frage um, warum sich Mielkes kriminelle Vereinigung so heftig für das lautlose Töten durch Radioaktivität interessierte, dass man die »Manifestierung irreversibler Schäden« wie »zu Siechtum führende Blut/Knochenmarkschäden …« akribisch und seitenweise auflisten ließ. Fuchs zitiert das luziferische Dokument mit dem Zusatz: »Was beweist das im Einzelfall?/ Fast nichts./ Also was?/ Sie haben mitgedacht.«
Von »Toxdat« dürfte der Literat 1991 erfahren haben. Damals tauchte ein Exemplar im Gauck-Bestand auf. Aus der Fakultät kursierte ein weiterer Beleg. Elektrisierende Funde für jemand, den die Furcht umtrieb, »was war im Knast wirklich abgelaufen hinter den Kulissen … beim Fototermin?« Mit »Toxdat«-Kopien kam er zu seiner Ärztin, gepeinigt von der Frage: »Wie kann ich das beweisen, dass in meinem Körper etwas ist?« Für ihn gehörte das Papier zum »großen, schmutzigen Thema der Zersetzung«, des »Zerstörens von Menschen und Seelen« durch die Stasi, die »übelste Art vielfach spurloser Verletzung«. Das »Einbringen von radioaktiven Substanzen, zum Beispiel über die Nahrungskette«, schloss der Krebskranke nicht aus.
Und nun öffnet sich das weite Feld der Spekulation höchst dramatisch, weil der 48-Jährige womöglich die »Zersetzung« am eigenen Leib erlitt. Vor ihm starben die Stasi-Häftlinge Rudolf Bahro und Gerulf Pannach auch an Krebs. Reiner Zufall? Fuchs’ Plasmozytom, heißt es von Medizinern, könne durch Strahlenverursacht werden. Die Quellenlage mag diffus sein, sein Tod hat etwas von einem ultimativen Appell, Licht ins Dunkel zu bringen, die noch verschlossene Welt der MfS-Knäste zu durchleuchten, nachdem Öffentlichkeit und Ämter den Aufklärer mit nie aufgelösten Ängsten und Verzweiflung alleinließen, ihm sogar Außenseitergefühle aufdrängten.
Reise in die Vergangenheit. Das frühere Stasi-Gefängnis Gera. Im Gemäuer hängt der Geruch untilgbaren Elends. Verwalter Thomas Zaucher führt uns zur »Kammer«, heute wie damals als Fotoraum genutzt. Das gemusterte Linoleum blieb, die Polaroid kamera ist neu. In dem Zimmer entdeckte das »Bürgerkomitee« am 27. Dezember 1989 hinter dem Vorhang ein ominöses Röntgengerät. Der Kasten habe zum Pakete-Durchleuchten gedient. Alarmierend die vom Gutachter beschriebene Möglichkeit, mit dem auf eine Person gerichteten Primärstrahl »ernsthafte gesundheitliche Schädigungen« herbeizuführen. Von Zacher, seit 1985 im Vollzug, wollen wir wissen, ob er hinterrücks verpasste Verstrahlung in Betracht ziehe: »Ich halte nix für unmöglich.«
Der dichte, schwarze Bart kennzeichnet Jörn Mothes schon von weitem als bürgerbewegt. Er ist genervt von »92 Presseanfragen« seit dem Tode von Fuchs. Ende 89 war Mecklenburg-Vorpommerns heutiger Beauftragter für die Unterlagen der Stasi im Geraer Knast mit dabei: »Ein buntgewürfelter Haufen von Leuten.« »Die Komposition von erkennungsdienstlicher Behandlung, Fotostuhl und unmittelbar dahinter befindlichem Röntgenstrahler hat uns stutzen lassen«, berichtet der Augenzeuge. »Das Ding war mobil wie ein Diaprojektor. Erkennbar keine Anlage für medizinische Aufgaben.« Gerüchte schwirrten herum. Rumäniens Securitate habe Oppositionelle verstrahlt. Das steigerte die Beklommenheit des Komitees. Der Anfangsverdacht,sagt Mothes, laute heute nicht anders als vor neun Jahren: »Verbrecherische Anwendung dieser Röntgenmaschine ist nicht auszuschließen.« Trotz einem halben Dutzend Strafanzeigen erfolgte bisher keine Aufklärung, die diesen Namen verdient. Fuchs beklagte das »deutliche Defizit an systematischer Analyse«. Das Unvorstellbare passt in keine Matrix.
Mothes ist ein bedächtiger Erzähler. Er wägt die Worte, nachdem Sensationsberichte der Sache mehr schadeten als nützten.
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