Die Stasi Lebt
Marienfelde beschaffte er Dossiers über die elektronische Kampfführung. Darunter das Dokument »Canopy Wing«, geheimer als geheim. Es deckte auf 47 Seiten Schwachstellen der Hochfrequenz-Kommunikation des Sowjet-Generalstabs auf. Kid verriet den bizarren US-Plan, falsche Befehle in den Funkverkehr zwischen Warschauer-Pakt-Piloten und der Bodenleitstelle Eberswalde einzuspeisen; eine Datenbank mit Stimmenprofilen existierte schon. Bis hinauf zu General Tschebrikow von der UdSSR-Staatssicherheit versah man Kids Informationen »mit höchsten Wertigkeiten«.
1985 verloren die Amis die Spur ihres damals auf der Goodfellow Air Force Base (Texas) dienenden Berufssoldaten. Durch die Versetzung dorthin war Carneys Bedeutung »für uns noch größer«, notiert HVA-Chef Markus Wolf in seinen Memoiren. Kid hielt dem Druck jedoch nicht stand, befürchtete, bei einer psychiatrischen Untersuchung komme seine Homosexualität heraus. Deshalb suchte er das Weite. Die Stasi hielt fest: Er habe sich »ohne Abstimmung mit der Zentrale« nach Mexiko abgesetzt, in der DDR-Botschaft als Quelle zu erkennen gegeben und »um politisches Asyl gebeten«.
In Ostberlin entschied Oberst Dr. Jürgen Rogalla (»Aufklärung Nordamerika und US-Einrichtungen BRD«), den als labil eingeschätztenSpion »rauszuholen«. Wahrlich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Der Deserteur wusste viel, kannte konspirative Wohnungen, Telefone, Grenzschleusen, Foto- und Kopierverfahren. Rogallas Erinnerung nach lief die Befehlskette »letztlich bis zu Minister Mielke«. Am 3. Oktober 85 fand »im Zusammenwirken mit dem kubanischen Bruderorgan der gedeckte Rückzug« statt. Man habe Carney »ohne Komplikationen heimgebracht«. Für die erprobte Route über Havanna genügte ein kubanischer Pass: »Es gab fünf Maschinen täglich.« Wilde Mutmaßungen der Amis schmückten Kids Abtauchen damit aus, er sei bei einem Erdbeben umgekommen.
Ein Doppelleben. 1983 begann es dermaßen banal, dass man Kids verhängnisvolle Affäre mit der Stasi für jugendlichen Leichtsinn halten möchte. Bei einem Ausflug in die DDR verpasste der GI die Schließung des Ostberliner Grenzübergangs Friedrich-/Zimmerstraße um 24 Uhr. Unvergesslich für HVA-Oberst Heinz Schockenbäumer »die Nacht, in der Carney angefallen ist«. »Depressiv und durcheinander, psychisch instabil«, war der 19-Jährige gestrandet. Das kann auch angetrunken meinen.
In solchen Fällen verlangte das »Wachhabenden-System« unbedingte Eil-Meldung an die HVA: »Wollt ihr euch den anschauen?« Über die Mobilisierungsliste erreichte man Schockenbäumer daheim. Er befahl einen Offizier zur Friedrichstraße. Der beruhigte den Boy erst mal. Man schleuste ihn Stunden später gen Westen zurück, nicht ohne die Vereinbarung, »bei Interesse über Tag wiederzukommen«. Schockenbäumer schnalzt noch heute mit der Zunge ob des Mitarbeiters, den ihm »der Zufall« in die Hände spielte. »Der Selbststeller« sprach akzentfrei Deutsch, phänomenal sein »phonetisches Gedächtnis«. Beschäftigt mit der DDR-Flugfunküberwachung, »kannte er die Stimme jedes unserer Piloten«. Schockenbäumer war baff.
Sein Major Ralph Dieter Lehmann nahm Carney in Empfang. Kids Führungsoffizier studierte Politik und Psychologie. Vor ihm saß ein junger Spund mit auffällig weichen, verletzlichen Zügen. Aus dem Gesicht ließ sich Schwäche herauslesen. Kid, wie Kind, war der passende Tarnname. Jeff brauchte die erwähnten Tattoos, um sich als ganzer Kerl zu fühlen. Ein Bündel von Impulsen mag den Feldwebel aus Cincinnati (Ohio) zu dem verhängnisvollen Schritt getrieben haben. Naive Weltverbesserungsabsicht, Abenteuerlust, Geltungsdrang, Verzweiflung, auch, wie er sagte, »Hass auf Vorgesetzte«. Was immer ihn unter dem Gefühlsansturm motivierte, ein großer Plan stand nicht dahinter. Wenn eine Wahrheit des Augenblicks existiert, dann die: Der unbedachte Moment ruinierte sein Leben.
Auf Stasi-Seite zählte: Der amerikanische Freund kam aus einer besonders beäugten Spezialeinheit, trat auf, als könne er kein Wässerlein trüben. Niemand hätte in ihm einen Krieger für Wolfs Schattenheer vermutet, kaltblütig genug, numerierte Topsecret-Dossiers rauszuschleppen. Kids auffällige Unauffälligkeit bringt die Nachbarin Brigitte Boll auf den Punkt: »Er war zurückhaltend, scheu, hatte einen weichen, kaum zu spürenden Händedruck.« Deshalb traf Frau Boll »fast der Schlag«, als sie 1997 seine wahre Identität erfuhr. Erst damals deckte
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