Die Stasi Lebt
Leiter der Abteilung III, Durchwahl 300. Der wichtige Helfer war zuständig für Strukturministerien wie Arbeit und Soziales. Bei Georg Grimm, Abteilung IV, Wirtschaft und Finanzen, hockte man dienstlich und privat in der Leitung. Vom Arbeitsstab Deutsche Politik schätzte die HA III besonders Hermann Freiherr Dr. von Richthofen hoch ein. Richthofen sei »einer der wichtigsten Leute« gewesen, habe mit darüber entschieden, »was der Kanzler auf dem Schreibtisch hat«. Deshalb hörte man ihm zu. Vom Referat 221, zuständig für die DDR,kam Direktor Kaeslers Ruf 2244 in die Stasi-Datei. Selbst Kohls Westberliner Maßschneider Volkmar Arnulf hatten die Profis von drüben drauf. Wenn die Drähte glühten, verlor die Stasi in ihrer dem Wahnsinn verwandten Sammelwut den Überblick und nahm selbst Nebenfiguren wie den Persönlichen Referenten Michael Lippert unglaublich wichtig. Bei alledem blieb Kohl immer Kohl und stand bis zum DDR-Untergang mit Klarnamen auf allen Topsecret-Papieren.
Angezapft ist dann vielleicht ein zu harmloses Wort für die von der Abteilung III zur Perfektion getriebene Methode. Wie Schmarotzer am Wirtstier bedienten sich die »Dreier« beim Richtfunknetz der Bundespost, sei es in Westberlin oder von da nach Westdeutschland. Ihre Rufnummern-Selektierungsanlagen, Kürzel RSA, überwachten Tag und Nacht bestimmte Fernmeldeanschlüsse automatisch, Spezialantennen fingen Wählimpulse auf, Erkennungsrechner ließen binnen Sekunden Tonbänder anspringen. Eine äußerst effektive Spionageart, zumal sie ohne jedes persönliche Risiko funktionierte. Bis zu 3000 Tonbandgeräte sollen in Betrieb gewesen sein. Besonders stolz war man darauf, sich live in Gespräche einzuschalten und unbemerkt in Echtzeit mithören zu können. So wenn Kohl seinen Diepgen sprach und mit einem dröhnenden »Morgen, Meister« überrollte.
Am international sortierten Equipment wurde nicht gespart. Die besten Empfänger stammten aus Ungarn, die guten Bandgeräte kamen von Uher. West-Ware auch die Computer-Innereien der Marke Siemens und die seit 1982 eingesetzten Kassetten. Die DDR selbst steuerte nur Nachbauten bei. Im modernsten ihrer Aufklärungsstützpunkte – »Quelle 1«, Standort Rhinow, Höhe 95,7 – filterten 45 Leute die Dialoge von Kohl & Co. aus der Datenmenge. Laut Inventarverzeichnis war schon dasHauptquartier Wuhlheide mit seinem 36 Meter hohen Antennenturm eine 106-Millionen-Investition. Eine bizarre Vorstellung, dass dort Männer und Frauen nach Dienstplan zwischen 7 Uhr 30 und 17 Uhr via Äther den Planeten Bonn ausforschten – um danach wieder in ihren Plattenbau heimzukehren.
Jeden Dienstag, 10 Uhr morgens, trafen sich die Eingeweihten im Zentralobjekt. Man rauchte »Club«-Zigaretten, Sekretärinnen kochten Kaffee. Zum harten Kern der Erleuchteten in Sachen Kohl zählten die schon erwähnten Hauptmänner L. und B., Oberleutnant M. stieß dazu, »ein kleines Licht«, wie gesagt wird. Ferner die Offiziere Helga H., Marion H. und Frau M. Als wahrer Kanzler-Freak galt in diesem Kreis »der kleine L.«, ein Ehrgeizling mit Ellbogen, nach Kollegen-Schilderung ungewöhnlich früh mit der Medaille für Waffenbrüderschaft geschmückt. Das Thema Kanzler sei für ihn eine Art Steckenpferd gewesen. Regelmäßig, so ein Teilnehmer, konferierte die Runde über den großen Bonner, beredete man Organisatorisches mit Abgesandten von Markus Wolfs Abteilung Gegenspionage. Als handele es sich um späte Rache des Abgehörten, musste einer aus dem Geheimzirkel nach der Wende bei der Mitropa kellnern und wurde auf der Route nach Budapest gesichtet. Der Nächste versuchte sich mit einem Kiosk, und B. machte in Versicherungen. Alles nicht mehr das, was ihrem vormaligen Status entsprach.
Damals schafften handverlesene Kuriere die Abhörergebnisse zu Markus Wolf. Danach ging das Material an Spezialisten wie den besagten Oberst Gailat. Wer Dossiers in die Hand bekam, musste in einem Quittungsbuch unterschreiben, erklärt einer aus der Befehlskette. Selbst intern arbeitete man konspirativ, in den Dokumenten fehlt jeder Hinweis auf Lauschangriffe. Meist begannendie Berichte mit der Standard-Formel: »Zuverlässig wurden Hinweise bekannt …«
Wo das ganze Kohl-Zeug abgeblieben ist? Kein echter »Dreier« glaubt im Ernst, das brisante Material sei anno ’90 zerschnipselt und zu Brei zermanscht auf der Deponie Freienbrink gelandet. Aus HA-III-Beständen warten im Zentralarchiv der Gauck-Behörde noch 332 laufende Meter unerschlossene
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