Die Stasi Lebt
Journalisten Kohl als begnadeten Strippenzieher. »Das Kanzleramt war für uns absolut offen«, rekapituliert ein Ohrenzeuge. Einschlägige Bonner Rufnummern kann er im Schlaf herunterbeten. Vom engerenZirkel hatte man nach seiner Schilderung »im Großen und Ganzen vielleicht 30 Telefone« ausgewählt, darunter zahlreiche Privatanschlüsse und routinemäßig die Einwahlnummer zur Regierungszentrale. Von außen ein abgeschotteter Bau, in den keine Maus hineinkam, für die 598 Kilometer Luftlinie ferne DDR-Aufklärung indes ein transparentes Gehäuse. Allem voran »bearbeiteten« die Funk-Kader im Rahmen des großen Lauschangriffs selbstverständlich des Kanzlers eigenen Apparat. Stasi-Mitarbeiter U., in Mielkes Reich unter 66623 zu erreichen, tippte Kohls Anschluss mit der Schreibmaschine (übrigens Modell IBM-Kugelkopf) akkurat in das Formblatt ein: »Ortsnetzkennzahl 0228«, im Kästchen dahinter »56-2002«.
Der CDU-Star amtierte gerade mal zwei Monate, da erging am 15. Dezember 1982 durch Mitarbeiter B. aus dem sogenannten Deliktbereich Politik bereits der Befehl, sich beim »Privatanschluss … im Kanzlerbungalow« einzuklinken: Bonn, 562289. Anforderung unter anderem: »Interna aus Kreisen der BRD-Regierung«, »Hinweise zur Person Kohl«, »Meinungen zu Politikern aller Parteien«, »geplante Vorgehensweisen des Kohl im Rahmen seiner Regierungs- und Parteifunktionen«. Ferner interessierten »Hinweise zu gegen die soz. Staaten gerichtete Aktivitäten«, und man erhoffte sich Aufschluss über »Haltungen innerhalb des Regierungskabinettes«. Schwungvoll unterzeichnete Gerd Kahnt vom Bereich A, Zentrale Auswertung, den Auftrag. Der spätere Oberst Kahnt legte 1986 eine unglaublich langweilige Abschlussarbeit an der Stasi-Hochschule Potsdam vor. Thema: »Die Organisierung spezifischer Methoden der Informationsgewinnung zur Aufdeckung und Verhinderung der Nutzung des grenzüberschreitenden Nachrichtenverkehrs als Verbindungsmittel durch gegnerische Geheimdienste«. Die 50-seitige »Geheime Verschluss-Sache/Persönlich« soll es angeblich nur ineinem Exemplar geben. Es wäre ein Exemplar zu viel. Gemeinsam mit Major Jürgen Hilbert verfasst, bietet die Schrift Phrasen wie diese: »Mit der automatisierten Informationsgewinnung wurde ein Instrument geschaffen, das eine scharfe Waffe im Kampf gegen den Feind darstellt.« Sie trage »in bedeutendem Maße zur bedarfs- und zeitgerechten Informierung der Parteiund Staatsführung … bei.« Mit nahezu »100%iger Sicherheit« seien alle im Zielkontrollspeicher befindlichen Anschlüsse zu überwachen und zu dokumentieren. Im Schlusssatz versichern die Autoren, das Werk »selbständig und ohne unerlaubte Hilfe angefertigt« zu haben. Das glaubt man sofort.
Wenn Helmut Kohl auf ihrer Agenda stand, galt für die Beschaffer in der Regel »Bearbeitungs- und Weiterleitungskategorie 2«. Das bedeutete, die gewonnenen Informationen waren binnen 24 Stunden im Wortlaut vorzulegen. In heiklen Fällen mit Bandkonserve. Kategorie 1 hieß »Sofort!«, brachte laut einem Mitarbeiter »Wahnsinnsstress«, verlangte wörtliche Aufbereitung und fernschriftliche Übermittlung innerhalb von drei Stunden. Fielen Top-News an, bretterte Genosse T. im Lada aus den Ferien in Ungarn nach Wuhlheide zurück. Das sei mehrfach vorgekommen. »Einser-Meldungen« hagelte es im Sommer 1987 bei der Vorbereitung der Honecker-Reise nach Bonn. Da schnappte man jeden Schnaufer von Kohl begierig auf. Bundestagswahlkämpfe und Reisen von Bonnern nach Moskau erhöhten den Druck von oben auf die Lauscher. »Alles spielte verrückt.« Die Mannschaften wurden verstärkt, zeitweise galt Urlaubssperre. Generalmajor Horst Männchen, der Boss der HA III, meldete jedes Detail im »Operationsgebiet«, also der BRD, mit Vorrang Richtung Mielke. Untergebene schildern den (seit einem Unfall) einarmigen General als unangenehm-rechthaberischen Vorgesetzten.
Im Normalbetrieb flossen die Kohl-Mitschnitte in sogenannte »G«-Informationen ein, Tenor: »Die Woche des Kanzlers«. »G« war das Kürzel für das Zusammenschreiben mehrerer Telefonate. Stand »A« auf dem Bericht, handelte es sich um ein einzelnes Gespräch. Experte T. erklärt uns die Methode auf einem Bänkchen am Berliner Gendarmenmarkt im Angesicht des Schiller-Denkmals. Vielleicht denkt der studierte Geheimdienstler an eine Szene aus Schillers »Räubern«: »Es wird Nacht, und der Hauptmann noch nicht da!« Reflexartig blickt sich T. beim Treff nach Observateuren
Weitere Kostenlose Bücher