Die Stasi Lebt
denunzieren. Am 20. Juni 1983 etwa schwärzte er einen Schüler namentlich bei der »Abteilung XX-Leiter« an. Der zählte zu einer Gruppe »im Zug Werder/Havel-Karlshorst, die Aufkleber mit dem Symbol und der Schrift ›Schwerter zu Pflugscharen‹ trugen: Um Kenntnisnahme und weitere Veranlassung wird gebeten. Rataizick. Oberst«. Womöglich verweilte sein Blick dabei auf den von Häftlingen gepflanzten Strauchrosen vor dem Fenster, dort blühten die Sorten »Berlin«, »Fortissimo«, »Lichtblick« vom Gartenkollektiv »Roter Oktober«.
Im Panzerschrank verwahrte der Sachwalter nebst Pistole Brisantes für Topsecret-Konferenzen wie die vom 5. März 1986; »weiße Tischdecken, Selters, Cola, Citrus, Gläser, Blumen, Bestuhlung für 40 Genossen« wurden verfügt. Die Einladung mussten die Adressaten »bis zum 7.4.1986 in eigenständiger Zuständigkeit« vernichten. Rataizicks Referat lag vor, Thema »Die politisch-operativen Aufgaben zur einheitlichen Durchsetzung der Dienstanweisung 1/86 des Genossen Minister über den Vollzug der Untersuchungshaft«. In diesem Stil ging es über 93 endlose Seiten zur »Durchsetzung des Prinzips der Wachsamkeit, Konspiration und Geheimhaltung«. Ja, er beherrschte die Bürokratensprache, betete Mielkes Phrasen nach, die jene Humanität ins Gegenteil verkehrten, mit der die Menschheit beglückt werden sollte.
»Schreiben Sie das uff. Sie müssen mich anhören.« Fast bellt er jetzt im Befehlston. Was sei nicht alles über die UHA 1 geschrieben worden. Wegen angeblich ungesetzlicher Behandlung, wegen Misshandlung, Körperverletzung, Folter hätten »sogenannte Zeitzeugen« ihn und seine 250 Mitarbeiter beschuldigt. Alles habe sich »als Luftblasen« erwiesen. »Nicht ein Einziger von uns ist angeklagt und verurteilt worden.«
Rataizick in der Rolle der verfolgten Unschuld gegen »diese infame Hetze«.
Jeder Inhaftierte habe doch einen »Anwalt seiner Wahl« mit der Verteidigung beauftragen können. Er erwähnt die gute Kost und rechnet vor, »das Haftkrankenhaus gab jährlich 220 000 Mark für Medizin aus. Das ist Fakt.« Am Ende spricht er von »systematischer Täuschung und Manipulierung der Gedenkstätten-Besucher«, und man versteht eigentlich nicht, warum er in der Idylle keine Tage der offenen Tür veranstaltete, sondern sie militärisch völlig abschirmte.
Der Obrist kennt das Leben nur in der Extremform – von Mauern eng umgrenzt. Er meidet den Westen, als stünde er weiter im Banne des Eids, der ihm Anerkennung und Sicherheit gab, Staatssicherheit. Der kleine Siegfried wuchs bei Pflegeeltern auf. Die Mutter sei »1939 im KZ Waldheim umgekommen«. Den Vater sah er ein einziges Mal. Die schwierige Kindheit mündete in Autoritätssuche, die nach Klempnerlehre und diversen Jobs mit dem Eintritt in den Geheimdienst glückte. Im übertragenen Sinn ersetzt ihm die Partei die Mutter. Mielke wird der Übervater, die Stasi-Ordensburg seine Heimat.
Akte R., die exemplarische Biographie eines Untertans: Anfangs erfüllt er nicht mehr als die Mindestnorm, nämlich groß genug zu sein, um durch den Türspion in die Zelle linsen zu können. Bald fällt eine zwanghafte Hingabe und die aus den Dokumenten sprechende Unerbittlichkeit für die Sache auf.
Seine Regimetreue kommt einem Schuldgefühl gegenüber der SED gleich, die ihn fördert. Die Oberen schwärmen von Rataizicks Sekundärtugenden: »gewissenhaft, dienstfreudig, zuverlässig, ehrlich, verschwiegen«. Ideologisch verpanzert wird er »die progressivste Kraft der Abteilung«, er sei »vorrangig ursächlich« für die gewachsene Kampfkraft und was sonst an nichtgeheuren Komplimenten über ihn geschrieben steht. Im Umgang müsse er »feinfühliger und verständnisvoller« sein.
Man hatte Pläne mit ihm. Er qualifiziert sich, macht seinen Diplomkriminalisten, die spätere Doktorarbeit verschwindet »versiegelt und verplombt« im Giftschrank, Gegenstand, natürlich der Stasi-Knast. 1965 erhält er 500 Mark Prämie für »hervorragende persönliche Einsatzbereitschaft« bei der Prozessvorbereitung gegen »vier Agenten imperialistischer Geheimdienste und Schleuserorganisationen«. Hätte der Machttechniker je am eigenen Tun gezweifelt, hätte man die Skrupel mit pompös klingenden Belohnungen zugedeckt: Orden, Ehrengeschenk des ZKGeneralsekretärs, Bulgarienreise mit Gattin, nicht zu vergessen die »Weinkaraffe mit 6 Gläsern/Kristall« für 1529 Mark von Mielke, Übergabe früh um neun. Zuletzt noch die »Verdienstmedaille der
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