Die Statisten - Roman
Taxifahrer anderer Landstriche haben ein Gesichtsfeld von bestenfalls hundertachtzig Grad, und das auch nur, wenn man das periphere Sehen einbezieht. Der Bombayer Taxifahrer kann sich von seinem Aussichtspunkt in der Ecke zweihundertneunzig oder sogar dreihundert Grad des Universums optisch einverleiben.
Der überragende Vorteil dieser zusätzlichen hundertundsoundsoviel Grad erschlieÃt sich dem Fahrgast erst, wenn ein Lastwagen- oder Busfahrer mit der unerschütterlichen Entschlossenheit eines rachsüchtigen Gottes und der festen Absicht, ihn und das Taxi mit dem StraÃenbelag zu assimilieren oder ihn zumindest fürs Leben zu verkrüppeln, auf den Wagen zudonnert. Die StraÃenverkehrsordnung in Indien mag darauf beharren, dass ein Fahrzeug, das ein anderes zu überholen wünscht, dies von rechts zu tun habe, aber Ihr Taxifahrer weiÃ, dass es dies in drei â was soll der Geiz: vier â von fünf Fällen von links tun wird. Nicht nur das, der Wagen zu Ihrer Linken könnte durchaus beschlieÃen, eine 180-Grad-Wendung zu machen und Ihnen dabei den Weg abzuschneiden. (Der Taxifahrer ist auf derlei gefasst, er hat es selbst schon oft genug gemacht.) Doch sein ergonomisch ausgelegter Rücken ermöglicht ihm, nicht nur die StraÃe vor ihm, sondern auch den Verkehr zu seiner Linken und sämtliche Fahrzeuge hinter ihm, die allerlei Mätzchen veranstalten könnten, im Auge zu behalten. Nichts, keine Geistesgegenwart, kein Gebet und auch kein Gott, kann ihn und seine Fahrgäste vor dem sicheren Tod bewahren auÃer seinem einmalig abgeschrägten Rücken, der sich so perfekt in die Wagenecke schmiegt.
Das Bombayer Taxi ist eines der schönsten Beispiele indischen Erfindungsgeistes und flexibler Raumgestaltung. Es ist die Begegnungsstätte der bedeutendsten Religionen der Welt. Auf dem Armaturenbrett befindet sich, neben einem winzigen Ventilator, ein Altar zu Ehren einer oder mehrerer der Millionen hinduistischen Gottheiten oder, falls der Fahrer Christ ist, zu Ehren der Jungfrau Maria und des Jesuskindes. Ein muslimischer Fahrer hat ein gerahmtes Bild der Kaaba, während ein gütig blickender Guru Nanak mit wallendem weiÃem Bart den Sikh-Fahrer und dessen Fahrgäste segnet. Neben dem Lenkrad können auch Gestalten wie Shirdi Sai Baba prangen, in einem zerlumpten Kittel und mit einem um den Kopf gewickelten Stück Stoff, Sathya Sai Baba mit seiner prächtigen Afrofrisur und knöchellanger safranroter Seidenrobe oder sonstige Gurus mit international-ökumenischer Anhängerschaft. Gelegentlich tun all diese und noch viele andere das, was ihre Anhänger sich standhaft zu tun weigern: Sie setzen sich freundschaftlich zusammen und schwätzen eine Runde.
Das Taxi ist auÃerdem ein Aromatherapie-Zentrum. Am Morgen, oder auch während des Tages, wenn gerade Schichtwechsel ist, entzündet der neue Fahrer ein oder mehrere bewusstseinssteigernde Räucherstäbchen, um sich selbst und seinen Fahrgästen inmitten der geistesgestörten Verkehrsverhältnisse der Stadt ein Gefühl von Ruhe und Frieden zu schenken. Die Götter fahren auf diese fromme Opfergabe voll ab und inhalieren begierig die Rauchfäden, die sich vom Armaturenbrett aus in die Höhe schnörkeln. Das synthetische Aroma haut so rein wie Chloroform und wirft einen binnen Sekunden um. Es könnte einen fast umbringen, aber es wäre hochgradig undankbar, sich darüber zu beschweren. Es spräche Bände über Ihre Kinderstube und Empfindungslosigkeit, wenn Sie, anstatt die Tatsache zu würdigen, dass der Fahrer nur ein Zwanzigstel von dem verdient, was Sie monatlich nach Hause bringen, und dennoch ein Zwanzigstel dieses Betrages ausgibt, um Ihre Fahrt angenehm und zuträglich zu gestalten, die Dreistigkeit besäÃen â metaphorisch ausgedrückt â, in seinem Duftgarten zu furzen.
Manchmal verwandelt ein Taxibesitzer und -fahrer sein schäbiges Blechkistchen namens Fiat Padmini in einen mobilen Leseraum. Die weitmaschige Netztasche, die an der Rückseite der vorderen Sitzbank hängt, ist dann vollgestopft mit Film- und Klatschmagazinen wie âFilmfareâ, âStardustâ und âSavvyâ â alle aktuell, wenngleich etwas abgegriffen, aber nie in dem MaÃe wie die drei oder fünf Jahre alten Hefte, die man vom Wartezimmer seines Arztes kennt â sowie der Tageszeitung und dem Marathi-Abendblatt
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