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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
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„Sandhyakal“.
    Doch ausnahmslos jedes Bombayer Taxi ist in Wahrheit eine fahrende Anspielung auf den Satyajit-Ray-Film „Jalsaghar“, nämlich ein Musikzimmer. Musik ist der Odem eines Taxifahrers. Er kann ohne sie nicht leben, und als der großherzige Mann, der er ist, empfindet er es als seine heilige Pflicht, nicht nur seine Fahrgäste, sondern auch seine Millionen von Mitbürgern selbst in so fernen Vororten wie Thane und gar Ulhasnagar daran teilhaben zu lassen. Er glaubt an die freie Marktwirtschaft und kauft seine Audiokassetten dort, wo sie am billigsten sind: bei einem der zahllosen Straßenhändler mit ihren Raubkopie-Kollektionen. Sollten Sie durch eine glückliche Fügung noch nicht von den schweren Schwaden der Räucherstäbchen niedergestreckt worden sein, werden Sie mit Sicherheit von der Schall-Attacke wie ein Nierenstein pulverisiert werden. Und falls Sie auch das nicht umbringt, geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin: Spätestens die Rausch-Kreisch-Qualität der raubkopierten Musik, gepaart mit der um die richtige Tonlage herumeiernden Geschwindigkeit des Kassettenrecorders gibt Ihnen garantiert den Rest.
    Wenn der Fahrer Nachtschicht hat, und es kommt jene Stunde, in der die biologische Uhr der hyperaktiven, testosterongesteuerten, einzigen durchgehend geöffneten Großstadt der Welt sechzig Minuten lang – zwischen drei und vier Uhr – Pause macht, dient das Taxi ihm auch oft als Schlafzimmer. Höchstens Anfänger strecken die Füße aus dem Fenster. Die meisten Fahrer werden gleich von vornherein mit Teleskopbeinen ausgeliefert, oder solchen, die sich wie ein schöner altmodischer Zollstock zusammenfalten lassen. Wenn Sie der erste Fahrgast des Tages sind, werden Sie vielleicht den Drang verspüren, sich die Räucherstäbchenstummel vom Armaturenbrett in die Nasenlöcher zu stecken, denn das Taxi wird dann so schweißig und ranzig riechen wie der Taxifahrer selbst.
    Mehr als alles andere ist das Bombayer Taxi aber Theater, wenngleich mit null Publikum. Denn dies ist das Mysterium des engen Taxiraums: In dem Augenblick, in dem ein Fahrgast einsteigt, hört der Taxifahrer auf zu existieren. Die Leute geben die haarsträubendsten Dinge von sich in der Meinung, dass vorne niemand sitzt und der Wagen von selbst fährt. Kein Dramatiker, Shakespeare eingeschlossen, könnte einem die inhaltliche, formale und spieltechnische Vielfalt bieten, die man hier erlebt: Melodram, Tragödie, Farce, das Theater der Gewalt und absurdes Theater, häusliche Gewalt, Teenagerliebe, üppigste Erotik und Hardcore-Pornographie, Familienfehden, Schmerz, Geturtel, Knutschen und Fummeln, emotionale Erpressung, Ritterlichkeit, Leid, Komödie, Hass, Rassismus, historische Exkurse, käuflicher Sex, politische Kommentare und Tiraden, Verlust und Verzweiflung, religiöse Ekstase, Vergewaltigung, Drogen, Schlägereien und Zusammenbrüche, der Dialog des Schweigens und Schmollens, Sieg und Verrat, Emergency Room, Mafia-Deals, Tragikomödien, Glücksspiel im kleinen und großen Stil, geschäftliche Verhandlungen, das Leben-wie-es-ist und das Leben-wie-es-gemacht-wird, die ultimative Realityshow. Ja, jederzeit ist Showtime.
    Noch vor einigen Jahrtausenden galt die stillschweigende Übereinkunft, dass ein freies Taxi, das von jemandem an den Straßenrand gewinkt wurde, diesen Jemand an jedes beliebige Ziel innerhalb der Stadtgrenze befördern musste. Seither hat sich einiges geändert. Vielleicht ist es das, was man „Fortschritt“ nennt. Heutzutage kann es vorkommen, dass man es sich gerade im Fond eines Taxis bequem gemacht hat, nur um gleich ohne viel Federlesens wieder hinausbefördert zu werden. Das richtige Prozedere geht in etwa folgendermaßen: Zunächst unterzieht Sie der Taxifahrer einer Befragung mit dem Ziel, festzustellen, womit Sie Ihr Geld verdienen und wie viel; er notiert sich die Details Ihres Stammbaums, wie viele Kinder und Ehefrauen Sie haben, schreibt sich Ihren Kontostand und Ihre Blutgruppe auf, verlangt von Ihnen die Vorlage dreier verschiedener Leumundszeugnisse und will schließlich wissen, ob Sie ein Kurz- oder ein Langstreckenfahrgast sind, ehe er Ihnen abverlangt, ihn dafür zu bezahlen, dass er sie dorthin fährt, wo er ohnehin hinwollte. Wenn sich Ihre Pläne mit den seinigen decken, lässt er Sie vielleicht einsteigen. Wenn Sie eigene Vorstellungen bezüglich

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