Die Statisten - Roman
um das Blut abzuholen. Was konnte es schon nutzen, wenn er Shiva anflehte, Pieta zu retten? Sie war ja katholisch; wäre es nicht ungehörig und kontraproduktiv, einen hinduistischen Gott zu bitten, ihretwegen zu intervenieren? Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, seine Gebete an Jesus zu richten. Aber damit hätte er das gleiche Problem gehabt, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Er beschloss, keine Risiken einzugehen und zu beiden, Christus und Shiva, zu beten.
Anderthalb Tage später stand es immer noch auf der Kippe. Wozu betete er, da er doch wusste, dass auch Götter versagten? Was würde er Pietas Mutter, ihrem Bruder Eddie und der GroÃmutter sagen? Sie würden ihm vorwerfen, sie geschwängert und danach umgebracht zu haben. Aber was würde es schon für eine Rolle spielen, was sie sagten, wenn Pieta nicht mehr lebte?
Als Ravan am nächsten Nachmittag Pietas Zimmer betrat, wandte sie den Kopf ab.
âSoll ich Ihrer Mutter sagen, dass es Ihnen gut geht und dass Sie bald wieder nach Hause kommen?â
âNein.â Ihre Stimme war fast nicht zu hören. âIch hatte ihr schon gesagt, dass ich vielleicht ein paar Tage weg sein würde.â
Und das warâs. Alles, was es zu sagen gab, war gesagt worden. Ravan kam sich vor wie ein Kleindarsteller in einem Film. Er hatte seinen Part gespielt; nun wurde er nicht mehr benötigt. Es würde für alle Beteiligten eine groÃe Erleichterung bedeuten, wenn er und jegliche Erinnerung an ihn jetzt spurlos verschwinden würden.
â CWD -Chawl Nr. 17, Mazagaon.â
âWohin?â Wie war der Mann in das Taxi eingestiegen, ohne dass Ravan etwas davon mitbekommen hatte? Es war unheimlich, er hatte nicht einmal die Tür zufallen hören.
âBist du taub? Ich hab es gerade gesagt.â
Ravan schaute den Fahrgast im Rückspiegel an und erstarrte.
âWoher wissen Sie, wo ich wohne?â
âNiemals, niemals die Augen von der StraÃe wenden, wie schwer die Krise oder wie unerwartet oder bizarr die Situation auch sein mag! Das wäre dann Lektion Nummer zwei, wenn ich richtig gezählt habe.â
Ravan versuchte, den Blick wieder auf die Fahrbahn zu richten, aber seine Augen hafteten wie festgelötet am Spiegel. Der Fahrgast bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. âWir sind alte Bekannte, nicht? Bei unserer ersten Begegnung haben wir uns über Gänge unterhalten. Ich habe dir gesagt, dass ein Auto normalerweise fünf Gänge hat, das Leben dagegen hundert und mehr. Das war Lektion Nummer eins, richtig? Wo ist mein Geld?â
Die zwei letzten Sätze kamen nahtlos hintereinander, ohne Pause oder Wechsel des Tons, so bekam Ravan gar nicht mit, dass der Mann die Spur gewechselt hatte.
âWas für Geld?â
âDu hast es vergessen? Ein Fall von selektiver Amnesie, wie ich vermute. Darf ich dein Gedächtnis auffrischen? Ich habe es vor vier Monaten in einem Lederbeutel unter dem Vordersitz deines Taxis liegen lassen. Na, klingelt es bei dir?â
âFahrgäste kommen und gehen. Ich bekomme davon dreiÃig, manchmal vierzig am Tag rein. Und das an sechs Tagen die Woche. Glauben Sie, ich kann mich an jeden erinnern, den ich mal im Taxi hatte?â
âIch verlange nicht, dass du dich an mich erinnerst. Du sollst dich nur an den Lederbeutel erinnern und ihn mir zurückgeben.â
âIch weià nicht, wovon Sie reden. AuÃer mir fahren zwei weitere Fahrer dieses Taxi, in zwei weiteren Schichten. Vielleicht sind Sie mit einem von denen gefahren. Und ganz ehrlich, wie können Sie wissen, dass Sie gerade bei mir eingestiegen sind? In dieser Stadt gibt es fünfzigtausend Taxis. Es könnte jedes dieser anderen neunundvierzigtausendneunhundertneunundneunzig gewesen sein. Ganz zu schweigen von den hundertfünfzigtausend Fahrern, die schichtweise an ihren Lenkrädern sitzen.â
âDu bist ein richtiger Schlauberger, nicht? Aber ich weiÃ, dass du es warst, Ravan Pawar. Ich weià es, und ich glaube, du weiÃt es auch. Könnten wir also mit diesem Blödsinn aufhören und ich mein Geld haben?â
Wie zum Teufel hatte der Kerl seinen Namen herausgefunden? Gütiger Gott, was sollte er jetzt bloà tun? Er musste sich etwas überlegen, und zwar schnellstens. Aber sein Gehirn verweigerte den Dienst.
âMal angenommen, rein theoretisch, Sie haben wirklich einen Beutel in meinem Taxi liegen lassenâ â Ravan
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