Die Statisten - Roman
Er sprang in die Höhe, kickte und wirbelte so schnell herum wie das Auge eines Hurrikans und vollführte dreifache Saltos in der Luft. Als sein Vater seine Mätresse Lali ins Haus geholt hatte, war Ravan in die Küche geschlüpft und hatte die Wände des vorderen Zimmers so schlagartig zusammenkrachen lassen, dass sein Vater und dessen Mätresse zu Staub zerkrümelt waren.
Seit Ravan Statist war, verfolgte ihn die gebrochene Geometrie, oder besser gesagt: die Verlogenheit und Doppelzüngigkeit des Raums. Fata Morganas traten nicht nur in der Wüste auf, sie waren die Quintessenz des Kinos. Noch vor Jahren hatte er, wenn er einen Film sah, bedingungslos an die dreidimensionale Realität und die Körperlichkeit des bewegten Bildes geglaubt. Keinen Augenblick lang hatte er an der materiellen Echtheit des riesigen Palastes gezweifelt, in dem die Heldin wohnte, deren Schlafzimmer allein gröÃer als der Victoria-Terminus-Bahnhof war; an der Wirklichkeit des Zuges, der, wenn die Brücke zusammenbrach, dreitausend Fuà tief in die Flussschlucht stürzte; oder der des Helden, der aus einem Flugzeug sprang, um die Heldin von einer Bande von Banditen zu erretten, und sich dann sieben, oder manchmal siebzehn von der Sorte ganz allein vornahm und zu Brei prügelte; oder der Hanumans, der den Berg Dronagiri mit der Heilpflanze Sanjivani auf der flachen Hand im Flug herantrug, um Lakshmans Leben zu retten. Jetzt lachte er über seine kindische Leichtgläubigkeit. Und doch ⦠und doch lieà sich nicht bestreiten, dass es ein falsches Lachen war, ein Lachen, das das zynische Wissen um Tricks und Technik des Mediums jederzeit wieder gegen die tröstliche Illusion eingetauscht hätte.
Jetzt war er ein Insider, wenn auch kein Held, sondern nur ein Statist. Er hatte die ganze Klempnerei aus nächster Nähe miterlebt und an dem groÃen Schwindel mitgewirkt, der das Kino letztlich war: Er kannte die Sperrholz-Paläste, die zinnenbewehrten Mauern einer Festung, die nur aus Pappmaché bestand, die Zimmer mit zwei oder drei, aber niemals vier Wänden. Das Objektiv war ein Sklave und ein Jasager in den Händen eines guten Kameramanns. Es trug bereitwillig Scheuklappen, wann und wo es der Regisseur wünschte; und da es ein begrenztes Gesichtsfeld hatte, konnte es nur das aufs Zelluloid bannen, was das Publikum sehen sollte, und nicht die Schlangengrube von Kabeln und Drähten, das Pandämonium aus Scheinwerfern, Reflektoren, Kameraschienen, Galgen, Klappen und Crewmitgliedern. Ja, Kino war Illusion, weiter nichts, aber Ravan kam rasch darüber hinweg. Was ihn wirklich faszinierte, war die Komplizenschaft der Vorstellungskraft, ihr Bedürfnis zu glauben, allem Anschein zum Trotz. Man hatte es mit einer Art gebrochener Geometrie mit zweieinhalb Dimensionen zu tun. Die Fakten spielten eigentlich gar keine Rolle. Der Geist gleicht in diesem Punkt der Natur: Er duldet kein Vakuum. Er füllt die Leerstellen aus und vervollständigt das Bild. Er lechzt nach einer dreidimensionalen Welt und stürzt Hals über Kopf hinein, wo er besser daran getan hätte, abzuwarten und zu beobachten.
Es dauerte eine Weile, bis Ravan den nächsten Schritt tat und den Zusammenhang herstellte, aber irgendwann im Laufe seiner Filmkarriere begriff er, dass die Metapher der gebrochenen Geometrie ebenso sehr auf das Leben wie auf das Kino zutraf. Die Wirklichkeit war lediglich das, was die eigenen Wahrnehmungen daraus machten. Was man über seine Freunde, Eltern, seine Frau, Geliebte, Kinder und Kollegen zu wissen glaubte, war nicht viel mehr als die Pappfassaden von Kulissenhäusern, bei denen man augenblicklich davon ausging, dass dahinter sich Wohnzimmer, Küchen, Toiletten, Schlafzimmer verbargen und vor allen Dingen reale Menschen lebten, mit Berufen, Ehepartnern, Kindern und dem kompletten Spektrum von Freuden, Krisen und Sorgen. Er hatte gelernt, dass der wahre Betrüger nicht die Leinwand war, sondern der eigene Geist.
Die Wahrheit ist, Menschen sind undurchschaubar. Sie sind Rätsel, Geheimnisse, Mysterien und Sphinxe, und egal, was man sich vormacht, sie werden es immer bleiben.
Was wusste Ravan schon über die einsame Frau, mit der er all die Jahre verbracht hatte? Was dachte sie über ihr Leben und den Mann, den sie als ihren Ehemann bezeichnete und der Ravans Vater war? Eines war klar, Ravan war der Sohn seiner Mutter und nicht seines Vaters. Weder
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