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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
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Heilige Buch schon vollständig abgeschrieben habe, um die Bedeutung und die Tiefe der Worte Allahs zu fassen und um meine Handschrift zu vervollkommnen. Ich kenne den Koran auswendig und könnte ihn im Schlaf rezitieren. Noch heute setze ich mich, wenn ich unter schwerem Druck stehe, mit Feder und Papier hin und schreibe meine Lieblingssuren auf. Kannst du dir etwas Bewegenderes und Schöneres denken als das Wort Gottes? Ich muss gestehen, dass ich manchmal zutiefst neidisch auf den Propheten bin. Stell dir mal vor: Es ist Nacht in der Wüste. Es herrscht absolute Stille. Der weiche Sand ist vom Wind modelliert, und die Sterne wagen nicht einmal zu blinzeln, um seine Vollkommenheit nicht zu stören. Der Engel Gabriel steigt zur Erde herab und sucht den Propheten auf. Er spricht zu ihm. Er tut dies nicht nur einmal, sondern dreiundzwanzig Jahre lang jede einzelne Nacht. Vergiss nicht, er ist lediglich der Übermittler. Was er vorträgt, sind die Worte des Allmächtigen selbst. Allein die Vorstellung erfüllt mich mit Ehrfurcht und Dankbarkeit, und ich weiß, dass es keine bessere Art zu sterben gibt als mit Seinen Worten auf den Lippen.
    Der Koran ist wahrhaft unvergleichlich. Wenn ich einst dem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und Er mich fragt, was ich im Himmel tun möchte, werde ich Ihm sagen: Dein Lob will ich singen in vollendeten Versen.
    Khuda hafiz

    P.S. Ich brauche dich nicht daran zu erinnern, dass ich jedem, der mich enttäuscht, das Leben zur Hölle auf Erden machen kann.

    Parvati-bai hatte immer geglaubt, sie kenne Ravan wie keinen anderen Menschen, aber in letzter Zeit war sie da nicht mehr so sicher. Die einfache, hart arbeitende Frau hatte keine Ahnung, was neuerdings in ihren Sohn gefahren war. Eines Morgens hatte er, statt in seine kakifarbene Taxifahreruniform zu schlüpfen (nicht alle Taxifahrer hielten sich an diese amtliche Vorschrift, obgleich der unausrottbare Mythos lautete, Kaki sei selbstreinigend, oder zumindest sehe man den Schmutz darauf nicht so leicht), einen nigelnagelneuen katholischen Priesterrock angezogen.
    â€žWas ist das?“, hatte sie ihn gefragt.
    Seine Antwort war aufschlussreich und erschöpfend gewesen: „Nichts.“
    Nichts, wie Mütter und Ehefrauen im Lauf der Jahrhunderte herausgefunden haben, ist der ultimative Abschluss jeder Debatte. Jegliches Ding endet, schließt, hört auf mit nichts. Gespräche, metaphysische Fragen, Leiden, Schmerz, Freude, Gott, alles wandelt sich in Schweigen und die Unendlichkeit der Leere, wenn es mit shunya , dem Nichts, konfrontiert wird. Es gibt nichts, was über das Nichts hinausginge.
    Entnervt wandte sie sich an ihren Ehemann. „Haben Sie Ihren Sohn gesehen, Mister?“
    Wie ein phulka , der über dem Feuer gewendet wird, rollte sich Shankar-rao, ohne die Augen zu öffnen, rasch auf die andere Seite, das Gesicht zur Wand.
    Parvati-bai wusste, dass Ravan bereits in seiner Kindheit durch das Wissen traumatisiert worden war, dass sein Sturz vom vierten Stock zu einem bedauerlichen Unfall geführt hatte. Eddies Vater hatte das Kind gerade noch rechtzeitig aufgefangen, aber vielleicht hatte der Schock des Sturzes ausgereicht, um das Gehirn ihres Sohnes zu schädigen. Keine Mutter hätte mehr tun können, um ihr Junges zu behüten und zu beschützen, als sie. Sie hatte ihr Möglichstes getan, um ihm ein bisschen Sinn und Verstand einzubläuen; sie hatte sogar versucht, ihm den Unsinn mit der Wahrheit auszutreiben, und ihm gesagt, es sei nicht seine Schuld gewesen – aber alles umsonst. Im Laufe der Jahre war er immer introvertierter und grüblerischer geworden. Er hinterfragte alles: alles, was er dachte, tat oder sich vorstellte. Den Kern seines Wesens machten Zweifel und Schuldgefühle aus.
    Er hielt sich verantwortlich dafür, was damals, in seiner frühesten Kindheit geschehen war. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich für jedes Übel der Welt schuldig gefühlt. Vielleicht tat er das sogar. Ständig wägte er alles ab, griff auf etwas zurück, was er vor Jahren gesagt oder getan hatte, und versuchte, dessen Auswirkungen nachträglich zu verändern oder umzubiegen, als könnte er die Vergangenheit beeinflussen. Er hatte kein Selbstvertrauen, außer in zwei Bereichen: in der Musik und im Taekwondo. Doch seine Hypersensibilität schien völlig nutzlos, wenn er darauf achten sollte, was

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