Die Staufer und ihre Zeit
meisten Türme waren zerstört, die Stadt gehörte schon lange zum Kirchenstaat.
Doch der Geist von Bologna war nicht mehr einzufangen. Weltkarriere hatte nicht nur die Organisation, sondern auch die Methode der Rechtswissenschaft gemacht: die Anwendung der scholastischen Dialektik auf die oft widersprüchlichen und ungeordneten Rechtstexte.
Vor Bologna war die Auslegung des Rechts die Sache der Kirche gewesen, theologische Erkenntnis ersetzte über Jahrhunderte logische Argumentation. Durch die Begegnungen mit dem Islam in Spanien und Süditalien infizierte sich das Abendland mit dem Bazillus der aristotelischen Wissenschaft,
der sich anders als im Christentum bei den Muslimen erhalten hatte. Damals kam wirklich alles zusammen: Mit der Wiederentdeckung des antiken Denkers Aristoteles war es wie mit den Digesten – die alten Ideen griffen um sich. Aristoteles brachte das fromme Abendland ins Stottern. Erstmals wurde laut darüber nachgedacht, dass die Bibelgeschichte von der jungfräulichen Geburt Marias mit den Naturgesetzen nicht in Einklang zu bringen ist. So kam es, ganz dialektisch, zur Erfindung der Wunder – als Ausnahmen von den ausnahmslos geltenden Regeln der Natur.
Das war der Geist der Zeit: Handel und Wandel, Geld und Kredit brauchten keine Gebete, sondern klare Ansagen. Der Ruf nach Rationalität fand Antworten nicht nur im kristallklaren römischen Recht, sondern ebenso in der klirrenden Logik aristotelischer Dialektik: Argument, Gegenargument, Conclusio, zack, zack. Fürs Recht bedeutete das, was bis heute als hohe Schule juristischen Handwerks gilt: die deduktiv vollständige Ableitung konkreter Entscheidungen aus abstrakten Rechtssätzen. Nirgendwo beherrschten sie das so brillant wie in Bologna. Morgens um sechs schon klirrte es in den Vorlesungen, die vorerst bei den Profs zu Hause stattfanden: Lectio, quaestio, disputatio, das dialektische Zergliedern von Fragen, bis nur eine mögliche Antwort übrig bleibt.
Fälle wie dieser: »Wenn bei einer Seereise den Eltern ein Kind geboren wird, stellt sich die Frage, ob für das Neugeborene der Fahrpreis zu entrichten ist.« Disputatio. Schließlich Auskunft des Professors, dass nach den Digesten »für das Kind nichts geschuldet wird, weil seine Beförderung nicht ins Gewicht fällt und es von all den Dingen, die zum Nutzen der Passagiere bereitgestellt werden, keinen Gebrauch macht«.
No tomato-juice, no ticket: Nicht anders wäre der Fall zu entscheiden, wenn das Kind an Bord einer Lufthansa-Maschine zur Welt kommt. »Wunderbar frisch und vernünftig« findet
der Staatsrechtsprofessor Michael Stolleis, langjähriger Chef des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, die römischen Fälle. Es gebe, so der Rechtshistoriker, »kaum einen intensiver studierten und kommentierten Text der Weltliteratur« als die in Bologna glossierten Digesten: »Nur die Bibel, der Koran und Aristoteles können damit verglichen werden.«
In Bologna weiß man ganz gut, die alte Geschichte auf der Höhe solcher Vergleiche am Leben zu halten. Nach Irnerius, dem ersten Doktor, heißt heute eine der Hauptstraßen der Innenstadt. Die marmornen Särge seiner Schüler von damals stehen, aufgebahrt auf Säulen, überdacht von grün gekachelten Baldachinen mitten im Straßengewirr der 375 000-Einwohner-Stadt herum: kleine Triumphbögen der Juristerei, die der Stadt und ihrer Universität zu geschichtlichem Ruhm verholfen hat. Noch immer schicken wohlhabende Eltern ihre Kinder zu der mit Renaissancepalästen reich gesegneten Uni, noch immer sind die Hauswände der City gepolstert mit den dicken Messingschildern der Advokaten und Notare.
Und dass Wohlstand und Glück in dieser Stadt letztlich dem Glanz antiker Vorbilder zu verdanken sind, zeigt sich sogar bei den Nudeln: Die Tortellini, Spezialität der Bologneser Pasta-Kunst, zu Sündpreisen an Touristen aus aller Welt verkauft, sind auch was ganz Besonderes: Sie seien, so heißt es, dem Nabel der römischen Göttin Venus nachgebildet.
SONNE DER VERNUNFT
Die Scholastiker des Hochmittelalters waren die ersten Aufklärer im christlichen Europa – allen voran der deutsche Dominikaner und Universalgelehrte Albertus Magnus.
Von Romain Leick
Vernunft im Mittelalter? Aufklärung gar? Mit spielerischer Freude stellt der Frankfurter Mediävist Johannes Fried diese provokanten Fragen zum angeblich finsteren Zeitalter. Vorurteile gibt es ja seit langem zur Genüge. Friedrich Wilhelm von Preußen, Soldatenkönig und
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