Die Steine der Fatima
Kräfte? Sie selbst war davon überzeugt gewesen, dass der Stein sie nach Buchara gebracht hatte. Doch wer konnte ihr mehr darüber erzählen? Wie erhielt sie Gewissheit?
»Frau Alizadeh!«, entfuhr es Beatrice, und im nächsten Augenblick zog sie sich auch schon an. Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel. Noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie mit dem Taxi nach Hause gekommen war. Ihr Auto stand noch immer auf dem Parkplatz am Krankenhaus. Also rief sie ein Taxi und lief die Treppe hinunter, um vor der Haustür auf den Wagen zu warten. Sie konnte es keine Minute mehr in ihrer Wohnung aushalten.
Als sie in das Taxi stieg und dem Fahrer das Krankenhaus als Ziel nannte, wurde ihr bewusst, dass es mitten in der Nacht war. Frau Alizadeh würde schlafen, und wenn einer der Kollegen sie auf dem Flur erwischte, würde man sie für verrückt erklären, aber egal. Sie hatte keine andere Wahl, sie konnte doch nicht bis morgen warten.
Der Taxifahrer warf ihr einen mitleidigen Blick zu, als er sie am Gebäude der Chirurgie hinausließ. Vermutlich dachte er, dass sie eine schlimme Nachricht erhalten hatte und jetzt einen Angehörigen besuchen wollte. Gern hätte sie seine Sorge zerstreut, aber sie hatte keine Zeit. Wie der Wind lief sie durch die Eingangshalle am Pförtner vorbei und direkt auf das Treppenhaus zu. Sie war viel zu aufgeregt, um auch nur eine Minute auf den Fahrstuhl zu warten. In rekordverdächtigem Tempo rannte sie die fünf Stockwerke hoch. Wenigstens wusste sie, auf welcher Station sie die alte Frau suchen musste, da sie selbst sie auf Station 5 verlegt hatte.
Der Flur der Station war still und verlassen. Im Schwesternzimmer brannte Licht, und Beatrice hörte aus dem angrenzenden Aufenthaltsraum Radiomusik. So leise wie möglich schlich sie den Flur entlang. Am Glasfenster des Schwesternzimmers konnte sie einen verstohlenen Blick auf die Magnettafel werfen, an der die Namen aller Patienten mit dazugehörigen Zimmernummern standen. Die Nachtschwester saß im Aufenthaltsraum und stellte gerade die Medikamente für den nächsten Tag zusammen. Deutlich konnte Beatrice das Geräusch der sich öffnenden Blisterpackungen und der Tabletten hören, die in die Medikamentenschälchen fielen. Die Nachtschwester schien Beatrices Anwesenheit nicht zu bemerken, denn sie sang gemeinsam mit Madonna »Like a Virgin«. Trotzdem war Beatrice froh, als sie endlich Frau Alizadehs Namen entziffern konnte, und – Allah sei Dank – sie lag allein in einem Zimmer.
Auf Zehenspitzen schlich Beatrice sich an dem Glasfenster vorbei zu Zimmer Nr. 508. Lautlos drückte sie die Klinke hinunter, öffnete leise die Tür und huschte hinein. Einen Augenblick lehnte sie sich gegen die Tür und atmete erleichtert auf. Das war gut gegangen. Sie kam sich vor wie ein Einbrecher. Dann sah sie sich um.
Im schwachen Licht der Notbeleuchtung erkannte sie Frau Alizadeh. Die alte Frau lag in ihrem Bett und atmete ruhig und gleichmäßig. An der Bettkante hingen ein Urinbeutel und die mit blutiger Flüssigkeit gefüllten Redon-Flaschen, und an einem Infusionsständer baumelte eine Flasche mit Kochsalzlösung. Leise trat Beatrice näher. Sie überlegte, ob es wirklich so klug war, die arme alte Frau zu wecken, und sie wäre auch wieder umgekehrt, wenn nicht Frau Alizadeh plötzlich die Augen aufgeschlagen hätte.
»Frau Doktor!«, flüsterte sie. »Das ist aber nett von Ihnen, dass Sie mich besuchen.«
»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte Beatrice sich höflich.
»Gut. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.« Die alte Frau blickte sich verwirrt um. »Aber wie ich sehe, ist es Nacht und Sie tragen keinen Kittel. Weshalb sind Sie gekommen? Oder besuchen Sie jeden Ihrer Patienten mitten in der Nacht?«
»Nein.« Beatrice zog sich einen Stuhl näher und setzte sich neben das Bett. »Ich komme, weil ich Sie etwas fragen muss. Erinnern Sie sich noch daran, dass Sie mir direkt vor der Operation etwas zugesteckt haben?«
Ein Lächeln glitt über das faltige Gesicht der alten Frau. »Natürlich«, antwortete sie. »Und ich nehme an, Sie haben es gefunden.«
»Ja. Und danach… Frau Alizadeh, ich habe in den vergangenen Stunden viele seltsame Dinge erlebt. Ich weiß nicht mehr, was wahr ist, weiß nicht mehr, ob ich mir alles eingebildet habe und…«
»Ganz ruhig, mein Kind.« Frau Alizadeh ergriff Beatrices Hand und tätschelte sie beruhigend. »Der Stein der Fatima ist anfangs ein wenig verwirrend. Er erscheint einem unberechenbar, zuweilen richtig
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