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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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wahrzunehmen. Schließlich kam sie zu einem Raum, aus dem lautes Stöhnen und Weinen zu hören war. Die Tür stand weit offen, und ohne dass Beatrice so recht hätte sagen können, weshalb, blieb sie stehen und schaute hinein. Sie sah in einen Schlafraum. Auf dem breiten, luxuriösen Bett lag eine junge Frau. Ihr Gesicht war erschreckend bleich und hatte einen bläulichen Unterton. Gequält wand sie sich und warf den Kopf hin und her, und sogar Beatrice vernahm deutlich ihre mühsamen, pfeifenden Atemzüge. Neben dem Bett kniete ein dicker Mann mit einem Turban auf dem Kopf, und Beatrice schien es, als hätte sie ihn schon irgendwann einmal gesehen. Vermutlich war die junge Frau seine Tochter, denn zärtlich hielt er ihre Hand fest, und auf seinem runden Gesicht zeichnete sich deutlich die Angst um sie ab. Sie waren umringt von etwa einem halben Dutzend Frauen, die laut weinten und jammerten. Aber so sehr sie alle das Schicksal der jungen Frau beklagten, niemand schien in der Lage zu sein, ihr zu helfen.
    Ohne darüber nachzudenken, ging Beatrice in den Raum hinein. Immer deutlicher konnte sie die pfeifenden Atemzüge hören. Es klang, als steckte ein Fremdkörper in der Luftröhre der jungen Frau. Weshalb merkte das keiner? Weshalb war kein Arzt da, der den lebensrettenden Luftröhrenschnitt vornehmen und dann den Fremdkörper entfernen konnte? Instinktiv wollte sie an das Bett der Kranken treten, als hinter ihr schnelle, schwere Schritte und eine laute Stimme erklangen. Unsanft wurde sie beiseitegestoßen, sodass sie zu Boden fiel. Mühsam rappelte sie sich wieder auf und erstarrte. Er war es! Der Mann, der sie eben zu Boden gestoßen hatte, war kein anderer als der Kerl, der von sich behauptet hatte, Arzt zu sein.
    Er eilte an das Bett, warf einen kurzen Blick auf die Patientin und stellte seine Tasche ab. Während er die Ärmel seines langen orientalischen Gewands hochkrempelte, scheuchte er mit herrischer Stimme die Frauen aus dem Zimmer. Dann begann er auf den Mann mit dem Turban einzureden. Sanft, aber bestimmt packte er ihn bei den Schultern und führte auch ihn hinaus. Nur Beatrice, die immer noch am Boden hockte, schien er nicht zu bemerken.
    Als alle anderen das Zimmer verlassen hatten, schloss er die Tür hinter sich zu und setzte sich zu der Kranken ans Bett. Er betrachtete sie eine Weile, und Beatrice hörte ihn seufzen. Endlich begann er, die junge Frau abzutasten. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf, als könnte er sich ihren Zustand nicht erklären oder wüsste nicht, was zu tun sei. Mittlerweile war das Gesicht der Patientin wirklich blau angelaufen, ihre Bewegungen wurden immer schwächer.
    Während Beatrice zusah, wie der vermeintliche Arzt seine antiquierten Instrumente auspackte, stieg ein Gefühl in ihr hoch, von dem sie eigentlich geglaubt hatte, dass es nicht mehr existierte – sie wurde wütend. Es trieb ihr die Wärme ins Gesicht und brachte ihr Blut in Wallung. Dieser Quacksalber, dieser Scharlatan! Die junge Frau brauchte eine Koniotomie, sie brauchte Sauerstoff. Stattdessen sah er untätig zu, wie sie qualvoll erstickte. Als er sichtlich unschlüssig nach einem seiner seltsamen Instrumente griff, war es mit Beatrices Geduld vorbei. Wütend sprang sie auf.
    »Das kann doch nicht wahr sein!«, rief sie aus und schubste den verdutzten Mann energisch zur Seite. »Lassen Sie mich mal ran!«
    Ein Blick auf die ausgebreiteten Instrumente sagte ihr, dass nichts von dem, was sie brauchen würde, zur Verfügung stand – weder Spiegel noch Stablampe, Stethoskop oder ein vernünftiges Skalpell mit steriler Klinge, nicht einmal eine dicke Kanüle war vorhanden, und von einem Endotrachealkatheter, den sie in die Luftröhre schieben konnte, ganz zu schweigen. Beatrice stieß einen kurzen Seufzer aus. Sie würde improvisieren müssen. Aber es war nicht das erste Mal. Als Chirurg lernte man sehr schnell, kreativ zu sein. Wenn während einer Operation Schwierigkeiten auftauchten, wegen unvorhergesehener anatomischer Besonderheiten zum Beispiel, war man gezwungen, rasch zu handeln und Ideen zur Lösung der Probleme zu entwickeln. Für Beatrice war das sogar der besondere Reiz an ihrer Arbeit. Wer sich daran nicht gewöhnen konnte und immer nur nach Lehrbuch arbeiten wollte, sollte lieber Labormediziner werden. So jemand hatte in der Chirurgie nichts verloren.
    Rasch sah Beatrice sich um. Ihr Gehirn arbeitete so schnell und präzise, als hätte sie niemals unter Depressionen gelitten. Innerhalb

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