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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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hinreißen lassen können, einem Waschweib seinen Namen zu nennen? Voller Verachtung sah er zu, wie die Sklavin ein Skalpell in die Hand nahm. Im nächsten Augenblick wurde ihm heiß und kalt zugleich. Was für einen Fehler hatte er begangen! Wenn sie keine Heilkundige war, so war sie wahnsinnig, und er hatte einer Verrückten Zugriff zu einem scharfen Messer verschafft. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und hoffte, dass Jussuf die Situation verstehen und rechtzeitig eingreifen würde, bevor sich die Sklavin mit dem Messer auf ihn stürzen konnte. Doch dann begegnete er ihrem Blick, und dieser Blick verwirrte ihn mehr als alles andere vorher. In diesen blauen Augen glühte nicht der Wahnsinn oder der Wunsch, ihn umzubringen. Hier las er Verwirrung, Verzweiflung und Spott. Es kam ihm vor, als ob ihm die seltsame Sklavin die gleiche Frage stellen wollte, die er noch vor wenigen Augenblicken in Gedanken an sie gerichtet hatte.
    Hastig nahm er ihr das Skalpell aus der Hand und wandte sich ab, um die Instrumente wieder in seiner Tasche zu verstauen – vor allem aber um ihrem verachtungsvollen Blick zu entgehen.

4
     
     
     
    Beatrice wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrem seltsamen Erlebnis in der Schleuse vergangen war. Eine Woche? Vielleicht zwei? Es hätte ebenso gut ein Jahr sein können. Sie, die stets einen kühlen Kopf bewahrte und nie die Fassung verlor, selbst wenn sich im Krankenhaus die Schwerverletzten stapelten, randalierende Patienten im Alkoholentzug handgreiflich wurden und ein Kollege nach dem anderen wegen einer akuten Magen-Darm-Infektion ausfiel. Nicht einmal als Einbrecher ihre gerade wenige Monate zuvor erworbene Wohnung völlig verwüstet hatten, indem sie Möbel umgeworfen und alle Wasserhähne aufgedreht hatten, hatte sie resigniert oder war in eine Depression verfallen. Natürlich hatte sie im ersten Schreck geheult, getobt, geschrien und sich maßlos aufgeregt, aber dann hatte sie die Polizei und die Sachverständigen von der Versicherung angerufen, und als diese ihre Wohnung wegen des Wasserschadens für unbewohnbar erklärten, hatte sie die Ärmel hochgekrempelt und den durchgeweichten Altbau wieder in ein Schmuckstück verwandelt.
    Niemals zuvor war sie jedoch in eine Lethargie verfallen, wie sie sie seit ihrem Verkauf durchlebte. Tag und Nacht wechselten einander ab, ohne dass sie dem viel Bedeutung beimaß. Ihre Umgebung nahm sie nur noch schemenhaft wahr. Wo sie war? Egal. Sie fragte sich noch nicht einmal, wer die anderen Frauen waren, woher sie kamen, welches unerfreuliche Schicksal sie hierher geführt hatte. Offensichtlich wohnten sie mit ihr zusammen, und ein- oder zweimal hatte sie sogar versucht, eine von ihnen anzusprechen. Aber sie waren vor ihr zurückgewichen, als fürchteten sie, sich mit einer Krankheit zu infizieren. Mittlerweile nahm sie ihre Anwesenheit kaum noch zur Kenntnis. Sie waren da, irgendwo in dem Grau, in das ihre ganze Umgebung versunken war; in lange Gewänder gehüllte Gestalten, die ab und zu wie Traumgebilde aus einer Märchenwelt an ihr vorbeihuschten.
    Wie aus weiter Ferne registrierte Beatrice die mageren jungen Mädchen, die sie wuschen und ihr wunderschön bestickte orientalische Kleider anzogen, die sie früher in Begeisterung versetzt hätten. Aber das musste schon sehr lange her sein, vielleicht war es sogar in einem anderen Leben, an das sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte. Mechanisch löffelte sie das Essen in sich hinein, das man ihr aus Freundlichkeit, vielleicht auch aus Mitleid hinstellte. Sie schmeckte weder süß noch sauer noch salzig. Nur manchmal, wenn die Speisen besonders scharf gewürzt waren, trieb ihr das Brennen von Pfeffer Tränen in die Augen. Aber auch das war ihr egal. Alles war ihr gleichgültig geworden. Tief in ihrem Inneren hasste Beatrice sich für diese Lethargie. Eine Stimme, die sie an eine junge, engagierte Chirurgin erinnerte, schrie ihr wütend zu, sie solle doch gefälligst ihren Hintern bewegen und endlich etwas tun, irgendetwas. Doch sie hatte keine Kraft, auf diese Stimme zu hören.
    Nur einmal, ein einziges Mal in den vielen tristen Tagen hatte etwas sie aufgerüttelt, und für einen winzigen Augenblick war die Trostlosigkeit von ihr abgefallen. Das war, als dieser Mann mit dem komplizierten, arabisch klingenden Namen ihr gesagt hatte, er sei Arzt. Der Gedanke, auf einen Kollegen zu treffen und mit ihm zu sprechen, hatte in ihr von einer Sekunde zur nächsten eine Kraft mobilisiert, an

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