Die Steine der Fatima
zu tun, dass sie auf rätselhafte Weise im orientalischen Mittelalter gelandet war. Hiermit hatte sie sich bereits wenige Tage nach dem Gespräch mit Mirwat abgefunden und sich sogar mit dem Gedanken arrangiert – wenigstens bildete sie sich das ein. Nein, es war etwas anderes. Da war ein unterschwelliges Gefühl des Unbehagens. Sie war deprimiert, nervös, gereizt…
»Was sagst du dazu?«, drangen plötzlich Mirwats Worte in ihre Überlegungen. »Ich würde gerne deine Meinung hören.«
»Oh, ich finde, du hast recht«, antwortete Beatrice hastig.
»Gib dir keine Mühe, Beatrice«, erwiderte Mirwat mit einem Lächeln. »Du hast nicht ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe. Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«
Beatrice hob resigniert die Hände. Konnte denn hier gar nichts verborgen bleiben? »Es tut mir leid, ich habe gerade nachgedacht. Das wird doch wohl noch erlaubt sein, oder?« Gleich darauf merkte sie, dass ihre Antwort schroffer ausgefallen war, als sie beabsichtigt hatte. »Entschuldige, ich bin heute nicht in besonders guter Stimmung.«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.« Mirwat schüttelte den Kopf. »Was ist nur mit dir los? Du bist nervös und reizbar wie ein Löwe im Käfig.«
Beatrice dachte eine Weile nach. Wie ein Löwe im Käfig. Ja, vielleicht hatte Mirwat damit sogar den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie war eine Gefangene – eingesperrt in diesem Palast, einem luxuriösen Kerker mit Marmorböden, Ebenholzmöbeln und Dienern für jede noch so alltägliche Verrichtung. Niemals, nicht einmal für einen kurzen Augenblick, war sie für sich allein. Ständig wurde sie beobachtet, ständig waren die anderen Frauen in der Nähe, die Dienerinnen oder die Eunuchen. Dienerinnen brachten ihr das Essen, noch bevor sie wirklich Hunger bekam, Mädchen hielten das Zimmer sauber und ordentlich und halfen ihr beim Ankleiden, Auskleiden, Baden und Frisieren. Wenn sie morgens die Augen aufschlug, wartete bereits Yasmina auf einen Befehl, und wenn sie sich abends ins Bett legte, breitete Yasmina die Laken über sie. Manchmal schrak Beatrice aus dem Schlaf hoch, weil sie glaubte, dass man sie sogar während ihrer Träume beobachtete.
Zusätzlich litt sie unter geradezu tödlicher Langeweile. Anfangs waren die Frauen sehr oft zu ihr gekommen, um sich von ihr medizinischen Rat zu holen. Häufig hatte sie sogar noch spät in der Nacht Patientinnen behandelt. Doch mit der Zeit brauchten sie ihre Hilfe immer seltener. Beatrice hatte schon überlegt, sich um die armen Kreaturen im Kerker des Sklavenhändlers zu kümmern, aber natürlich war das verboten. Mirwat hatte fast der Schlag getroffen, als Beatrice ihr von dieser Idee erzählt hatte, und sich geweigert, ihr bei der Durchführung zu helfen. Ihr selbst jedoch fehlten die nötigen Verbindungen, um ihr Vorhaben allein in die Tat umzusetzen. Sie hätte nicht einmal gewusst, wie sie den Kerker finden sollte.
Die Stunden wurden mit jedem Tag länger und unerfüllter. Es gab kein Radio, keinen Fernseher, um sich abzulenken, nur das Geplauder der anderen, das sich stets um die gleichen Themen drehte – Männer, Kleider, Kinder. Wie sehr sehnte Beatrice sich danach, ein Buch in der Hand zu halten, allein und ungestört in einer stillen Ecke zu sitzen und einen Roman zu lesen. Aber sie war gefangen, gefangen in dieser Zeit. Und es gab kein Entrinnen.
»Du siehst traurig aus«, sagte Mirwat und blickte sie forschend an. »Fehlt dir etwas?«
Beatrice seufzte. »Ich glaube, ich habe Heimweh.«
»Vermisst du deine Familie?«, erkundigte sich Mirwat mitfühlend.
Beatrice runzelte nachdenklich die Stirn. Seltsam, über ihre Eltern und ihre Freunde hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Was mochten sie wohl gerade tun? Fehlte sie ihnen? Fragten sie sich, was aus ihr geworden war? Vielleicht war sie ja gar nicht wirklich verschwunden, sondern lag auf irgendeiner Intensivstation im Koma. Vielleicht schuf sie sich dort als Gefangene ihres eigenen Geistes diese Traumwelt. Sie wusste noch nicht einmal, ob ihr diese Vorstellung Angst machte. Oder ob es sie beruhigte, dass es wenigstens eine Erklärung für den Wahnsinn gab, den sie gerade durchlebte.
»Ja, ich vermisse meine Familie. Aber vor allem vermisse ich mein gewohntes Leben, die Freiheit zu tun, was mir gefällt.«
»Aber das darfst du doch«, erwiderte Mirwat und schüttelte verständnislos den Kopf. »Niemand darf dir Befehle erteilen.«
»Ja, natürlich«, entgegnete Beatrice mit einem Anflug
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