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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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und Herkunftsetiketten unter den Teppichen und am Bettzeug, Schrauben an den Möbeln, etwas, das man übersehen hatte, als man diese mittelalterliche Welt für sie inszeniert hatte. In ihrer Verzweiflung nahm Beatrice sogar das Bett auseinander und drehte die Truhen um. Ohne Erfolg. Im Gegenteil, jeder einzelne Gegenstand war ein Meisterwerk mittelalterlicher arabischer Handwerkskunst und schien Mirwats Aussage nochmals zu bestätigen. Sie befand sich im Jahr 389 islamischer Zeitrechnung.
    Schließlich gab Beatrice ihre Suche auf, trat ans Fenster und lauschte den Geräuschen der Nacht. Grillen zirpten, manchmal raschelte eine Maus durch das Gebüsch, Fledermäuse flatterten auf der Jagd nach Insekten über den Himmel. Sie konnte sich nicht daran erinnern, in Hamburg jemals so eine Stille erlebt zu haben. Selbst wenn der Verkehr in der Nacht fast völlig zum Erliegen kam, irgendwo fuhr doch ein Auto, man hörte in der Ferne die Sirene eines Polizei- oder Unfallwagens, die Stimmen und das Gelächter von Jugendlichen, die aus einer Diskothek kamen. Und niemals war es so dunkel. Nur vage konnte sie in den dunklen Schatten die Silhouetten der Bäume erkennen. Aber es gab Sterne, unendlich viele Sterne, einen ganzen Himmel voll davon. Es waren so viele, dass Beatrice nicht einmal die ihr bekannten Sternbilder ausmachen konnte.
    Sie seufzte tief. Bislang hatte sie fest daran geglaubt, dass es ihr eines Tages gelingen würde, einen Bus, einen Zug oder vielleicht sogar ein Flugzeug zu erwischen, mit dem sie hätte fliehen können. Aber das kam nun natürlich nicht mehr infrage. Aber wie sollte sie den Weg nach Deutschland finden? Zu Fuß? Mit einem Eselskarren oder auf einem Maultierrücken? Sie musste unwillkürlich schmunzeln, als sie sich vorstellte, wie sie auf einem kleinen zottligen Esel quer durch den Vorderen Orient und durch Europa reiten würde, um irgendwann, nach einigen Jahren, wieder nach Hamburg zu kommen… Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, ihr wurde heiß und kalt zugleich. Ihr war ganz plötzlich eingefallen, dass Hamburg um die erste Jahrtausendwende kaum mehr als ein mit hölzernen Palisaden befestigter Marktplatz war, der in regelmäßigen Abständen von den Wikingern heimgesucht wurde. Selbst wenn sie es schaffen sollte, wieder nach Deutschland zurückzukommen, wozu? Weshalb sollte sie die Mühen und die Gefahren auf sich nehmen? Deutschland und Hamburg, so wie sie es kannte, gab es noch gar nicht! Beatrice wurde schwindlig, als ihr die Konsequenzen klar wurden. Wie sollte sie wieder nach Hause kommen, wirklich nach Hause, nicht nur zurück nach Hamburg, sondern auch in ihr Jahrhundert? Wie sollte sie durch die Zeit zurückreisen, wenn sie noch nicht einmal wusste, wie sie überhaupt hierher gekommen war?

6
     
     
     
    »Herr, verzeiht, dass ich Euch störe.«
    Selim war so leise in das Arbeitszimmer getreten, dass Ali erschrocken zusammenzuckte. Er untersuchte gerade einen fünf Jahre alten Jungen, der seit zwei Jahren nicht mehr sprechen wollte.
    »Was gibt es denn?«, fragte er unwirsch.
    »Ich habe eine Nachricht für Euch. Der…«
    Doch Ali ließ ihn gar nicht ausreden. »Wenn ich fertig bin, werde ich dich anhören. Warte solange vor der Tür!«
    Mit hängenden Schultern verließ Selim den Raum fast noch leiser, als er gekommen war. Er tat Ali beinahe leid. Vielleicht war er doch etwas zu schroff gewesen. Aber sein Diener musste lernen, dass er unter gar keinen Umständen gestört werden durfte, wenn er gerade einen Patienten behandelte. Selbst dann nicht, wenn der Vater ein einfacher Ziegenhirte war und sich die Behandlung seines Sohnes eigentlich gar nicht leisten konnte.
    Mit einem Seufzer wandte er sich wieder dem kleinen Jungen zu, der ihn mit großen dunklen Augen aufmerksam ansah. Ali untersuchte die Ohren des Kindes, schaute ihm in den Mund und tastete seinen Hals ab. Er konnte nicht feststellen, dass der Kleine unter einer Erkrankung litt. Was also sollte er tun? Wie sollte er den Jungen heilen?
    Ali warf einen kurzen Blick auf den Vater. Der Mann war, wie auch sein Sohn, ärmlich, aber sauber gekleidet. Er war mager und abgehärmt, sodass er fast wie ein Greis aussah, obwohl er kaum älter als Ali selbst sein mochte. Dieses Gesicht erzählte von Entbehrungen, von Hunger, von harter Arbeit, von Armut, Ungerechtigkeit und Not. Dennoch hatte er sich mit seinem kleinen Sohn auf den beschwerlichen Weg gemacht, quer durch die Rote Wüste, um den berühmten Arzt aufzusuchen, der sogar

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