Die Steine der Fatima
sie dir helfen.«
Beatrice zuckte mit den Schultern. Was hatte sie zu verlieren?
»Warum nicht? Schaden kann es nicht.«
Sekireh nickte. »Gut. Ich werde alles Nötige vorbereiten. Wenn es Zeit ist, wirst du es erfahren.«
Sekireh erhob sich ächzend und ging ohne ein weiteres Wort davon. Beatrice sah ihr nach und wusste nicht, ob sie sie bewundern oder bedauern sollte. Wie sie selbst schien auch Sekireh in der falschen Zeit zu leben. Ihrer Einstellung nach war sie eine moderne Frau, die vermutlich mit ihrem Leben etwas anderes angefangen hätte, als Frau des Emirs von Buchara zu werden – wenn sie eine Wahl gehabt hätte. Kein Wunder, dass die Alte verbittert war.
Der Gong, der das Ende der »Stunde der Frauen« ankündigte, hallte durch den Garten und holte Beatrice aus ihren Gedanken. Der Gong wurde dreimal in bestimmten Abständen geschlagen, und bis zum dritten Schlag mussten die Frauen den Garten verlassen haben. Beatrice stand auf. Langsam ging sie zurück zum Palast. Sie hatte es nicht eilig. Sie blickte zum Himmel empor, an dem bereits viele Sterne zu sehen waren. Direkt über dem Palast war ein besonders schönes Sternbild. Beatrice kannte den Namen nicht, aber es war ihr schon oft aufgefallen. Jedes Mal, wenn sie es sah, empfand sie den Anblick als tröstlich. Diesmal schaute sie es sich länger als gewöhnlich an. Der Gong schlug gerade erst zum zweiten Mal, sie hatte also noch etwas Zeit. Versunken in den Anblick, glaubte sie plötzlich, in der Anordnung der Sterne die Form eines Auges zu erkennen. Sie hatte plötzlich die Gewissheit, dass sich eine weitere Wende in ihrem Leben anbahnte. Wer auch immer da oben war, er würde sie nicht im Stich lassen.
»Komm in den Palast, es ist Zeit.«
Jussufs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Lautlos und dunkel wie ein Schatten war der schwarze Eunuch plötzlich hinter ihr aufgetaucht. Beatrice hatte ihn nicht bemerkt, bis er direkt vor ihr stand.
»Ja, ich komme«, sagte sie. Beatrice wusste, dass Jussuf sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen würde, bis sich die Tür des Harems hinter ihr geschlossen hatte. Der Eunuch versah seine Aufgabe überaus gewissenhaft.
Gerade als Beatrice die Tür erreicht hatte, schlug der Gong zum dritten Mal. Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal um und sah zu dem Sternbild zurück. Das Auge stand groß und strahlend über ihr.
7
Über den Bergen ging die Sonne auf und überzog die schroffen Gipfel mit königlichem Purpur. Der Muezzin trat auf das Minarett hoch über den Kuppeln Bucharas und begann mit dem Lobpreis Allahs. Seine klare Stimme hallte durch die morgendliche Stille, schwebte über den Dächern der schlafenden Stadt, glitt durch die Ritzen in Fenster und Türschwellen in die Häuser der Armen und Reichen und drang sogar bis in den Palast des Emirs und den finstersten Winkel der Souks vor.
Ali stand am Fenster seines Schlafgemachs und lauschte dem Weckruf der Gläubigen. Als er noch ein kleiner Junge war, hatte er sich manchmal vorgestellt, die Stimme des Muezzin sei in Wahrheit ein eigenständiges Wesen; vielleicht ein Dschinn oder gar ein Dämon, der durch die Luft flog und durch Schlüssellöcher und Mauerritzen in die Häuser der Menschen kroch. In seiner Furcht hatte er sogar an einem Abend sämtliche Löcher seines Zimmers mit wachsgetränkten Lappen verstopft, um diesem Geist den Zutritt zu verwehren. Natürlich war er trotzdem am folgenden Morgen vom Gesang des Muezzin geweckt worden. Und den Rest jenes Tages hatte er damit verbracht, die Wachsspuren von Tür, Fenster und Wänden zu entfernen.
Ali musste über seine kindliche Torheit lächeln. Damals hatte er noch an Geister geglaubt, die Welt der Dschinnen und Dämonen war lebendig für ihn gewesen. Aber obwohl diese Zeit längst vergangen war, hatte die Stimme des Muezzin nichts von ihrer Zauberkraft eingebüßt. Besonders in den frühen Morgenstunden hatte der Gesang etwas Magisches. Als der letzte Ton verklungen war, wandte sich Ali vom Fenster ab und schraubte sein Fernrohr wieder auseinander. Ohne ersichtlichen Grund war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Wie so oft, wenn ihn Grübeleien wach hielten und er nicht schlafen konnte, hatte er sein Fernrohr genommen und die Sterne beobachtet. Das tat er bereits, seit er in seinem zehnten Lebensjahr sein erstes Fernrohr von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Natürlich war jenes Fernrohr einfach gewesen. Es hatte lediglich aus zwei
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