Die Steine der Fatima
von Bitterkeit. Wenn man wie Mirwat dazu erzogen worden war, eines Tages im Harem des Emirs zu leben, dann konnte das Leben hier in der Tat wie das Paradies erscheinen. Aber sie selbst? Für sie war es die Vorstufe zur Hölle. Beatrice sehnte sich danach, am Abend nach einem langen, arbeitsreichen Tag ins Bett zu fallen, froh und dankbar, dass sie endlich liegen durfte. Manchmal, wenn sie nach über dreißig Stunden Dienst nach Hause gekommen war, war sie so müde gewesen, dass sie sich nicht einmal mehr zugedeckt hatte und am anderen Morgen frierend aufgewacht war. Hier war der Schlaf im Grunde genommen kaum notwendig. Weder Körper noch Geist wurden ausreichend gefordert, um eine echte Müdigkeit zu erzeugen. Beatrice schlief schlecht. Sie träumte wirres Zeug und wachte oft mitten in der Nacht auf, ohne wieder einschlafen zu können. Meistens stand sie dann auf, um sich die Sterne anzusehen. Aber das hölzerne Gitter vor ihrem Fenster behinderte die Aussicht. Sie konnte sich nicht einmal hinauslehnen. Wenn sie sich wenigstens um ihre eigenen Bedürfnisse hätte kümmern können. Aber genau das durfte sie nicht.
Als sie vor ein paar Tagen Yasmina gesagt hatte, dass sie sich allein anziehen wolle, war die Kleine laut weinend aus dem Zimmer gestürzt, und erst einige Stunden später hatte Beatrice erfahren, dass das Mädchen geglaubt hatte, sie würde es aus ihren Diensten verstoßen. Mirwat hatte sich sicherlich noch niemals in ihrem Leben selbst angekleidet, geschweige denn, dass sie gearbeitet hatte. Sie konnte daher auch gar nicht wissen, was ihr entging und was Beatrice fehlte. Aber wie sollte sie das der Freundin erklären?
»Wir sollten uns hinsetzen, dann lässt sich leichter reden«, schlug Beatrice vor. Sie nahmen auf einer Bank in einem abgelegenen Teil des Gartens Platz, von dem sie wussten, dass die anderen Frauen ihn nur selten aufsuchten.
»Zu Hause, in Hamburg«, begann Beatrice, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen und dem Gesang der Vögel gelauscht hatten, »habe ich für mich selber gesorgt. Ich habe mein Gemüse und Fleisch selbst eingekauft und habe mir mein Essen selbst gekocht. Ich habe mich selbst gebadet und angezogen. Ich habe sogar meine Wäsche selbst gewaschen.«
»Aber das ist ja schrecklich!«, rief Mirwat und sah Beatrice mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid an. »Hattest du denn überhaupt keine Diener? Du Ärmste!«
Beatrice lächelte. Sie hatte gewusst, dass es Mirwat schwer fallen würde, sie zu verstehen.
»Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Ich brauchte mich nicht an den Brunnen zu stellen, um dort die Wäsche zu waschen. Wir haben Apparate, die fast von selbst arbeiten und das für uns erledigen. Und das Wasser wird über ein ausgeklügeltes Rohrsystem direkt in unsere Wohnungen und Häuser gebracht. Aber«, fuhr Beatrice fort, ohne auf Mirwats ungläubige Miene zu achten, »ich war mein eigener Herr. Ich war allein, wenn ich allein sein wollte, und wenn ich Lust auf Gesellschaft hatte, habe ich meine Freunde gerufen. Und es gab keinen Unterschied, ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelte.«
»Was?!«
»Dir fällt es sicherlich schwer, das zu glauben. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe mit Männern Kaffee getrunken, bin mit ihnen spazieren gegangen…«
»… und ins Kino!«, fügte Beatrice voller Sehnsucht in Gedanken hinzu. Hatte es wirklich eine Zeit gegeben, als sie mit männlichen Kollegen am selben Tisch in der Kantine gesessen und gegessen hatte? Sich mit ihnen unterhalten hatte – über das neue Kinoprogramm, den Chef, Patienten, Tratsch aus dem Krankenhaus? Oder war das alles nur ein Traum?
Mirwat schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber das ist unmöglich. Niemand würde das zulassen. Du kannst dich nicht einfach in der Öffentlichkeit mit Männern treffen. Du bist eine Frau!«
Beatrice lächelte traurig. »Dort, wo ich herkomme, ist das möglich. Frauen dürfen wie Männer zu jeder Zeit überall hingehen. Wir brauchen uns nicht einmal zu verschleiern.«
»Das gibt es nicht. Du willst mich zum Narren halten. Du denkst dir eine Geschichte aus.«
»Nein, Mirwat, ich schwöre dir, es ist die reine Wahrheit. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, dir etwas davon zu erzählen. Ich wusste, dass es dir schwer fallen würde, mir zu glauben, dass es in deinen Ohren wie ein Märchen klingen muss. Aber vielleicht kannst du mich jetzt besser verstehen und sogar nachvollziehen, weshalb mir eure Sitten und Bräuche manchmal
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