Die steinerne Pforte
rausholt, sonst. . .«
Der Hauptmann packte Sam beim Kragen und stieß ihn unsanft Richtung Tür.
»Châtaigner, stecken Sie diesen kleinen Nichtsnutz ins Loch. Geben Sie ihm eine Decke und etwas zu essen. Sobald der Spähtrupp zurück ist, soll mir der verantwortliche Offizier Bericht erstatten.«
Zwei Stunden? Drei Stunden? Sam hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte sich in eine kratzige dunkelbraune Decke eingewickelt und pickte mit der Fingerspitze die letzten Kekskrümel aus seinem Napf. Seine Zelle stank nach Moder und Urin, aber wenigstens war ihm nicht kalt. Ob die Patrouille schon wieder heil in der Festung angekommen war? Er hoffte, dass sie nicht aus Versehen in ein Scharmützel geraten waren . . . Obwohl er die Drohungen des Hauptmanns eigentlich nicht so ernst nahm. Man würde doch nicht einfach einen vierzehnjährigen Jungen erschießen, auch nicht im Krieg. Bestimmt hatte er ihm nur Angst machen wollen . . . Auf irgendeinem Polizeirevier wollte er allerdings auch nicht landen. Bis zum Sonnenstein war es nicht weit, weniger als ein Kilometer. Wenn man Sam aber hinter die Frontlinie schickte, in ein Waisenhaus oder sonst wohin, könnte er den Stein vergessen. Er musste also einen Weg finden, um . . .
Der schwere Riegel wurde mit einem gewaltigen Klacken zur Seite geschoben, und der nette Bärtige, der ihn aufgegriffen hatte, erschien in der Türöffnung.
»Alles klar, Junge ? Mann, das duftet ja nicht gerade nach Veilchen hier, was? Ja, so ist das im Loch, was soll’s. Ist ja auch nicht der rechte Ort für einen wie dich. Komm, steh auf, ich bring dich nach draußen, frische Luft schnappen. Da ist jemand, der mit dir reden will.«
Samuel folgte ihm, die Decke unterm Arm. Von wegen Luft schnappen! Sie folgten denselben dunklen fensterlosen Gängen wie vorher, bis sie an einer doppelten Eisentür hinter dem Aufenthaltsraum waren. Obwohl er es sich die ganze Zeit erfolgreich ausgeredet hatte, beschlich ihn für einen kurzen Moment die Angst, dahinter könnte der Innenhof hegen, in dem schon das Exekutionskommando wartete. »Ist... ist der Hauptmann da?«, fragte er unsicher.
»Der Hauptmann? Oh, den . . . den wirst du noch früh genug sehen!«
Der Bärtige drückte die Klinke herunter und bedeutete ihm vorzugehen.
»Ich warte hier auf dich, Junge. Da drin darf man nicht rauchen und ich würde mir gern eine drehen . . .«
Samuel machte einen Schritt nach vorn und erkannte am Geruch sofort, wo er war: in einer Krankenstation oder einem Feldlazarett. An den Wänden aufgereiht, standen mehrere Betten. Ungefähr zehn Verletzte sah er, ein paar von ihnen schliefen. Ein Krankenpfleger mit weißem Kittel lächelte ihn breit an.
»Léonard ist dahinten, mein Junge, er möchte sich bei dir bedanken!«
Samuel trat an den Wandschirm, den man vor das Bett von Korporal Chartrel geschoben hatte. Der lag auf einem grauen Laken, das Bein unter einer Art Käfig verborgen. Sein Gesicht war leichenblass, die Züge ausgemergelt, und Sam schätzte ihn auf vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Der Korporal verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln.
»Danke . . . danke, Kleiner. Das war allerhöchste Eisenbahn, weißt du. Ein bisschen länger, und ich wäre . . . Ich habe eine ganz schöne Ladung abgekriegt vor zwei Tagen. Wir haben um Fleury gekämpft. Ich bin in einen Graben gerutscht. So habe ich überlebt, aber ohne dich ... Hast du eigentlich auch einen Namen?« Sam suchte nach einem Namen, der französisch klang: »Jacques ... ich heiße Jacques.«
»Nun, Jacques, du bist mein Schutzengel. Die Jungs haben mir erzählt, dass du mit dem Hauptmann zu tun hattest, aber mach dir mal keine Sorgen, wir werden dir helfen. Nach allem, was passiert ist . . .«
Er streckte Sam die Hand entgegen und öffnete langsam die Faust.
»Hier . . . das wollte ich dir geben. Mein Glücksbringer. Ich habe ihn letztes Jahr in einem Schützengraben gefunden. Und da ihn niemand vermisst hat. . .«
Er legte eine silberne Medaille mit einem Loch in der Mitte in Sams Hand. Nur der blau angelaufene Rand mit der Inschrift »République Française« war noch zu sehen.
»Das ist ein Militärorden, Kleiner, den bekommen nur die Tapfersten. Ich werde am Ende vielleicht auch so ein Ding kriegen, wer weiß. Der Soldat, dem er gehört hat, muss das Medaillon in der Mitte verloren haben, oder er hat eine Kugel abgekriegt. Das Ding ist nichts mehr wert, aber ich habe mir eingeredet, es würde mich beschützen. An
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