Die steinerne Pforte
machen wir jetzt?«, unterbrach ihn der große mit dem idiotischen Gesichtsausdruck. »Soll ich nun schießen oder nicht?«
»Nimm die Waffe runter, Jeannot!«, befahl der Bärtige. »Ist doch nur ein Kind! Er spricht französisch, und er kennt den Korporal!«
»Vielleicht«, gab der, den sie Marcel nannten, zurück, »aber es ist nicht an uns, darüber zu entscheiden. Wir werden den Hauptmann informieren.«
Er deutete mit einer Kinnbewegung auf die Straße in Richtung Souville: »Du gehst voran, mein Junge, und keine Tricks.«
Sam folgte wortlos der Anweisung – auf Iona hatte er die Vorzüge des Schweigens schätzen gelernt. Auf welches Erfolgstrio war er denn da gestoßen? Offenbar hatte der große Dumme seinen ersten Einsatz und war ganz wild darauf, seine Waffe auszuprobieren.
»Aber die Krähe da, Marcel, auf die darf ich doch schießen?« »Bist du wahnsinnig? Willst du, dass die Deutschen uns erwischen? Du wirst noch genug Gelegenheit haben, dein Pulver zu verschießen, wenn sie dich losschicken, um Dounaumont zurückzuerobern!«
In dieser Weise verlief ihre Unterhaltung, bis sie an der Festung von Souville ankamen, einem Waffenstand mit mächtigen Schutzmauern, der die Straße und die unterhalb liegende Stadt überragte. Durch einen Tunnel gelangten sie ins Innere und grüßten den Wachposten in seinem Schilderhaus.
»Wann kommst du mich ablösen, Jeannot?«, fragte dieser.
»Aber ich habe noch nicht geschossen«, war die Antwort des großen Dummen, als ob es in seinem Leben nichts Wichtigeres gäbe.
Nach dem Tunnel folgten sie einer Reihe unterirdischer Gänge. Sam musste sich anstrengen, die Orientierung zu bewahren. Schließlich kamen sie in eine Art Aufenthaltsraum, in dem einige Soldaten rauchten, lachten oder Karten spielten. Marcel eilte auf einen von ihnen zu, der sich auffallend gerade hielt und das Treiben mit einer gewissen Distanz zu verfolgen schien.
»Hauptmann!«, rief Marcel und nahm Haltung an. »Wir haben auf der Straße nach Fleury einen Jungen aufgespürt! Er behauptet, den Korporal Chartrel lebend gesehen zu haben!«
Der Hauptmann musterte den Neuankömmling scharf und bellte dann in eisigem Ton: »Bringen Sie ihn in mein Büro.« Einer der Soldaten sprang von seinem Kartenspiel auf und führte Sam in einen schmutziggelben Raum, der von zwei Glühbirnen erleuchtet wurde. Die ganze Möblierung bestand aus einem Tisch, drei Stühlen und einigen Wandregalen.
Nach ungefähr zehn Minuten erschien der Hauptmann.
»Lassen Sie uns allein, Châtaigner. Ich werde ihn selbst verhören.«
Als sie schließlich unter sich waren, bot der Hauptmann Sam einen Stuhl an, pflanzte sich hinter ihm auf, die Hände auf die Rückenlehne gestützt, und ging direkt zum Angriff über:
»Ich könnte dich auf der Stelle erschießen lassen. Du bist mitten im Sperrgebiet. Alle Städte in der Umgebung sind evakuiert, sogar Verdun. Jeder Zivilist, der hier auftaucht, steht sofort im Verdacht, ein Spion zu sein.«
Sein prüfender Blick ruhte auf Sam, der sich hütete, auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Ich habe eigentlich überhaupt keine Zeit, mich mit dir abzugeben, Kleiner. Die Deutschen setzen uns seit einigen Wochen ganz schön zu – sie können jeden Moment angreifen. Und angesichts der Lage wird mich niemand fragen, ob ich einen Grund hatte, dich zu erschießen oder nicht.«
Er trat vor Sam und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Im Augenblick sehe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Patrouille, die ich losgeschickt habe, kehrt unversehrt mit dem Korporal Chartrel zurück und du bist für mich nur ein kleiner dahergelaufener Ausreißer, aus einem Waisenhaus oder einer Besserungsanstalt, was weiß ich. Das würde auch deinen Aufzug erklären . . . Du könntest dich auf der Flucht verirrt haben und zufällig nach Fleury geraten sein. In dem Fall würde ich dich morgen der Polizei übergeben, und du würdest mit einem blauen Auge davonkommen. Oder aber meine Patrouille gerät in einen Hinterhalt. In diesem Fall wärst du für mich ein Verräter. Welche Folgen das für dich haben würde, kannst du dir selbst ausmalen.«
»Ich habe wirklich mit dem Korporal gesprochen . . .«, versuchte Sam sich zu verteidigen.
Der Hauptmann schnitt ihm das Wort ab: »Du kannst mir erzählen, was du willst, Kleiner, ich habe Wichtigeres zu tun, als dich weichzukochen. Châtaigner wird dich erst einmal ins Loch sperren, dann sehen wir weiter. Aber ich rate dir, die Wahrheit zu sagen, wenn er dich wieder
Weitere Kostenlose Bücher