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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Prevost Andre
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musste er ein regelrechtes Verhör über sich ergehen lassen, gespickt mit bissigen Bemerkungen über die Verantwortungslosigkeit seines Vaters, der ihn angeblich vollkommen sich selbst überließ. Sam biss sich auf die Lippen und übte sich in der hohen Kunst des Schweigens – auch wenn es ihm schwerfiel.
    Kaum waren sie bei Grandma angekommen, erfuhr sein falscher Onkel eine wundersame Wandlung: Aus der geifernden Bulldogge wurde auf einmal der treue Bernhardiner, der das verlorene Schaf zu seiner Herde zurückbrachte.
    »Ich habe ihn gefunden, Grandma, auch wenn es mich einige Mühe gekostet hat! Er sagt, er habe in der Barnboimstraße übernachtet, aber ich bin nicht sicher, ob man ihm das glauben sollte.«
    »Mein Sammy! Mein Sammy! Ich habe solche Angst gehabt! Solche Angst! Sag mir, was passiert ist!«
    »Ich wollte einfach nur mal wieder allein sein, Grandma. Ich habe doch auch das Recht, ein bisschen zu Hause zu sein, oder nicht?«
    »Aber natürlich! Aber warum musstest du weglaufen, einfach so, ohne ein Wort?«
    »Wenn ihr meine Meinung dazu hören wollt: Er wollte nur nicht da sein, wenn sein Zeugnis hier eintraf«, bemerkte Rudolf hämisch. Das Zeugnis . . . aua . . . Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Danke, Rudolf!
    »Es war heute Morgen in der Post«, bestätigte Grandpa. »Es ist wirklich nicht besonders berauschend. Aber man muss den Jungen auch verstehen, er hat es in der letzten Zeit nicht leicht gehabt. Und kommt, so katastrophal ist es nun auch wieder nicht!«
    »Ich bin weiterhin der Ansicht, ihr solltet ihn nächstes Jahr ins Internat stecken«, beharrte Rudolf. »Falls . . . falls Allan nicht wieder auftaucht, müsst ihr sowieso eine Entscheidung treffen.«
    In das betretene Schweigen hinein sagte Sam mit fester Stimme: »Er wird zurückkommen. Er wird zurückkommen, das verspreche ich euch!«
    Grandpa nickte.
    »Selbstverständlich wird er zurückkommen. Allan kommt immer zurück! Ach, Sammy, da fällt mir ein, ein Freund von dir hat angerufen. Onk oder Monk, so genau habe ich es nicht verstanden.«
    Monk? Monk hatte angerufen?
    »Was . . . was wollte er?«
    »Dich an den Judowettkampf morgen erinnern. Es schien ihm wichtig zu sein, dass du dabei bist.«
    Na klar, Monk hatte sich vorgenommen, ihn vor aller Welt auseinanderzunehmen!
    »Aber ich bin nicht besonders gut in Form«, wich Sam aus. »Ich habe diese Woche nicht richtig trainiert, bestimmt überstehe ich die erste Runde sowieso nicht . . .« Grandma tätschelte seinen Arm und lächelte nachsichtig, aber Rudolf hatte für so etwas natürlich überhaupt kein Verständnis.
    »Wenn Sie ihm jetzt nachgeben, erweisen Sie ihm keinen besonders guten Dienst! Vor allem nicht nach dem, was er getan hat! Samuel braucht Regeln, Disziplin, und so ein Wettkampf ist das beste Mittel, um seinen Charakter zu stärken! Wenn er schon beim ersten Hindernis scheut, wird nie was aus ihm werden!«
    Wieso musste dieses Affengesicht im Anzug sich eigentlich dauernd einmischen? Leider schienen seine Argumente Grandma doch zu beeindrucken.
    »Aber du warst doch immer so begeistert vom Judo, oder nicht?«
    »Ja . . . Ich bin einfach nur ein bisschen müde und . . .«
    »Ich glaube, Allan würde wollen, dass du hingehst«, schnitt Grandpa ihm das Wort ab.
    Rudolf kostete seine Rache voll aus; er genoss es sichtlich, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.
    »Wir könnten ihn begleiten, das würde ihn anspornen. Und wenigstens wüssten wir, wo er ist!«
    Für den Rest des Abends wurde Samuel in sein Zimmer verbannt, und es war ihm streng verboten, mit Lili zu sprechen – damit er keinen schlechten Einfluss auf die junge Dame ausübte. Der angebliche Diebstahl ihres Handys hatte dafür den Ausschlag gegeben, und seine Großeltern hatten sich gezwungen gesehen, ihn zu bestrafen. Seltsam, wie Rudolfs Anwesenheit sich mehr und mehr zu seinen Ungunsten auswirkte. Während des Abendessens erwischte ihn auch noch eine volle Ladung aus Tante Evelyns Giftspritze: Schulversager, Halbkrimineller, zukünftiger Penner und andere Nettigkeiten. Allmählich wurde klar, wie seine Zukunft aussehen würde: Falls sein Vater nicht wieder auftauchen sollte, würde man ihn in das Internat-Gefängnis von Meriadek schicken. Wieder einmal beschloss Sam, dass es klüger war zu schweigen.
    Sobald er in seinem Zimmer war, nahm er vier oder fünf Blatt Schmierpapier, kritzelte hastig ein paar Worte darauf und knüllte sie zu Kügelchen zusammen. Er ging auf den Balkon und warf eins nach

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