Die Steinernen Drachen (German Edition)
je später es wurde. Es war eine unheilvolle Empfindung, gefangen in seinem Kopf, wie er hinter dem Tresen.
Fünf nach zwölf betrat Olaf Lockmann mit einem breiten, zufriedenen Grinsen das Ten Forward . Die vielen Gäste zu dieser späten Stunde lösten deutlich sichtbare Glücksgefühle in ihm aus. Wahrscheinlich mehr und intensivere Gefühle, als eine Frau es in Lockmanns fortgeschrittenem Alter vermag , dachte Frank und reagierte sofort. Er zog die Schürze aus und drückte sie seinem Chef gegen die breite Brust. „Olaf, du musst kurz für mich übernehmen, ich habe einen Notfall!“, brüllte er ihm ins Ohr.
Bevor sein Boss irgendeinen Kommentar loswerden konnte, war er bereits durch die feiernde Menge hindurchgetaucht und im Freien. Schnell überquerte er die Straße, lief um die Hausecke und suchte das Tor zum Hinterhof des Restaurants, wo er nachmittags die unschöne Begegnung mit der Alten hatte. Er wusste, dass Zhong und seine Kollegen nach Restaurantschluss häufig im Hof standen und rauchten, ehe sie aufräumten. Doch als er durchs Tor trat, war niemand zu sehen. Durch die Oberlichter der Restaurantküche fiel schwaches Licht in den Hinterhof. Angestrengt versuchte er, etwas zu erkennen, aber der Schein reichte nicht mal bis zu den Abfallcontainern. Nervös blickte er auf die Uhr. Olaf schmeißt mich raus!
Es roch wieder stark nach Fett und Küchendampf. Durch die Abluftrohre hörte er das Klirren von Porzellan. Rechts neben ihm flammte ein Feuerzeug auf. Er machte erschrocken einen Satz nach links und rammte gegen einen der Container. Ein stechender Schmerz explodierte in seinem Brustkorb. Stöhnend fasste er sich an die Rippen. Sein Herz schlug bis zum Hals.
„Soweit ich weiß, hast du Hausverbot! Die Alte hat mich vorgewarnt und untersagte mir mit dir zu sprechen!“, erklang eine flüsternde Stimme aus der Dunkelheit. Der Lichtpunkt einer glühenden Zigarette wies ihm die Richtung.
„Was willst du?“
„Zhong! Ich wusste nicht, dass du akzentfrei Deutsch sprichst, fast so gut wie deine Chefin. Ist das euer großes Geheimnis?“
„Möglich. Dann kannst du dir auch vorstellen, was mit denjenigen passiert, die uns auf die Schliche kommen. Sieht alles danach aus, als müssten wir dich aus dem Verkehr ziehen.“
Er hoffte, dass der Chinese einen Witz machte, obwohl sein Tonfall nicht danach klang. Da er nicht noch mehr Zeit mit Sticheleien oder ernst gemeinten Drohungen verplempern wollte, kam er direkt zur Sache. „Wo ist Lea?“
Schweigen.
„Zhong, ich bitte dich! Du bist der einzige, der mir etwas sagen kann! Du hast immer auf sie aufgepasst und warst ihr eng verbunden. Wenn du etwas weißt ...“
„Warum interessierst du dich plötzlich wieder für sie? Fast ein Jahr lang war es dir egal, was aus ihr geworden ist und nun jaulst du hier herum wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten ist. Was soll das?“
Er konzentrierte sich auf den glühenden Punkt zwischen zwei Stapeln leerer Getränkekisten. Vorsichtig näherte er sich dem Kellner. „Das kannst du mir nicht vorwerfen! Ich habe nach Leas Verschwinden versucht mit euch zu reden, stieß aber auf taube Ohren. Seltsamerweise konnte damals keiner von euch auch nur ein deutsches Wort.“
„Flühlingslolle“, äffte Zhong aus der finsteren Ecke und ließ ein dünnes Grinsen folgen. Durch die aufglimmende Zigarette erkannte er schemenhaft die Züge des Chinesen.
„Lea ging, weil du ihr Vertrauen missbraucht hast. Zu meinem Bedauern liebte sie dich, doch du hast diese Liebe mit Füßen getreten und sie schändlich betrogen. Reicht das?“
Frank wollte ihn anschreien, Zhong sagen, dass es nicht wahr sei, was er ihm an den Kopf warf, aber er konnte es nicht, obwohl sein Schweigen einem Schuldeingeständnis gleichkam. Eine unbeschreibliche Leere machte sich in ihm breit. „Wo ist sie hin?“, hörte er sich fragen.
„Sie hat es mir nicht verraten“, antwortete Zhong und er sah, wie der glühende Lichtpunkt in weitem Bogen über die Mauer flog. „Ich muss rein. Die ehrenwerte Frau Jiang vermisst mich sicher schon und wir wollen doch beide keine Scherereien mit ihr.“ Mit diesen Worten drängte sich der kompakte Oberkellner an ihm vorbei und verschwand mit schnellen Schritten in Richtung der Küchen. In der Tür drehte er sich noch einmal um. Das blasse Neonlicht aus der Küche verlieh ihm eine bläuliche Haut, die an einen Toten erinnerte. „Wir haben alle unsere Geheimnisse – manche nur kleine, unzulängliche, andere
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