Die Steinernen Drachen (German Edition)
Wo ist der verfluchte Zettel? Schließlich fand er ihn in der Brusttasche seines Hemds, das er schon in den Wäschekorb geworfen hatte. Auf dem Stück Papier stand eine Handynummer ohne Name. Er überlegte, was für ein Tag heute war. Wenn man keine gewöhnliche Fünf-Tage-Woche hatte und grundsätzlich bis tief in die Nacht arbeitete, konnte man gelegentlich die kalendarische Orientierung verlieren. Nach einer Weile war er sicher, dass Sonntag war. Weil er es hasste, Leute an ihren freien Tagen zu stören, haderte er mit sich, die Nummer zu wählen. Andererseits war es wichtig!
Für wen lief die Zeit ab? Für Leas Vater? Das behauptete Kham, aber dessen Gerede misstraute er. Für Lea? Mittlerweile war er überzeugt, dass es falsch war, ihr plötzliches Verschwinden als harmlos abzutun. Die Gewissheit darüber, dass ihr etwas zugestoßen war, konnte er nicht mehr verleugnen.
Er trank seinen Kaffee aus und starrte erneut auf den Zettel. Es dauerte noch einige Minuten, bis er zum Telefon griff. Es meldete sich eine Frauenstimme. „Ja?“
„Ähm, ... guten Tag, mein Name ist Grabenstein, Frank Grabenstein. Ich bekam Ihre Nummer von Horst Schwarz, dem Journalisten.“
„Ich weiß, wer Horst ist, aber wie kommt er dazu, Ihnen meine Nummer zu geben?“
„Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie am Sonntag störe, aber er sagte mir, Sie könnten mir etwas über Laos erzählen.“
Die Frau stieß ein Lachen aus und vermittelte ihm den Eindruck, dass er einen schlechten Scherz gemacht hatte. „Was wollen Sie denn alles wissen ... über Laos?“, fragte sie mit offensichtlicher Ironie und bremste damit seinen Enthusiasmus.
Im Stillen stimmte er ihr zu. Die Frage war idiotisch. Trotzdem wollte er nicht eingestehen, dass er sich darüber noch keinerlei Gedanken gemacht hatte. Es entstand eine unangenehme Pause.
„Sie sagen, dass Sie meine Nummer von Horst haben. Ich gehe davon aus, dass das stimmt und er wird sich etwas dabei gedacht haben, sie Ihnen zu geben. Vielleicht hilft es Ihnen weiter, wenn ich Ihnen sage, dass ich Wirtschaftsethnologin bin. Mein Name ist Ngo, Doktor Chin Ngo!“
„Doktor No? Wie bei James Bond?“
„Nicht ganz! Ich schreibe mich N - G - O. Was kann ich nun für Sie tun?“
„Wie gesagt, ich brauche ein paar Informationen über Laos. Kultur, Land und Leute ...“
„Mein Tipp: Kaufen Sie sich einen Reiseführer.“
Er war nicht sicher, ob sie einen Witz machte oder ob sie es ernst meinte. Ihre Stimme war angenehm und ohne einen erkennbaren Dialekt. „Ich fürchte, dass trifft es nicht so ganz“, antwortete er schließlich.
„Vorschlag: Sie überlegen sich, was Sie für Auskünfte über Laos brauchen und wenn Sie mit sich übereingekommen sind, rufen Sie mich wieder an.“
„Könnten wir uns nicht treffen? Es ist wirklich wichtig!“
„Woher rufen Sie denn an?“
Erst jetzt bemerkte er, dass sich seine Gesprächspartnerin überall in Deutschland befinden konnte, da er sie auf ihrem Handy angerufen hatte.
„Waiblingen“, klärte er sie auf und hoffte, dass sie etwas damit anfangen konnte.
„Gut! Sie laden mich morgen um neun zum Frühstück ins Café am Marktplatz ein. Damit bleibt Ihnen noch eine Weile Zeit, sich zu überlegen, welche Fragen ich Ihnen beantworten soll.“
„Morgen um neun?“, wiederholte er gedehnt. Bei dem Gedanken an den frühen Termin lief ihm ein Schauer über den Rücken. Aber er wagte es nicht, einen späteren Zeitpunkt vorzuschlagen. „Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit opfern“, erklärte er stattdessen. „Ich werde pünktlich sein ... Woran erkenne ich Sie?“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden mich erkennen“, sagte sie und trennte die Verbindung.
Das erste Verhör
29. Juni 2003
Der Ausgang des Telefonats stimmte ihn optimistisch. Andererseits kannte er jetzt seine Hausaufgaben. Frau Doktor Wirtschaftsethnologin würde ihm sicher nicht weiterhelfen, wenn er seinen Informationsbedarf über Laos nicht klarer definierte. Er nahm Kugelschreiber und Schreibblock zur Hand, schlug das Deckblatt um und schrieb in die erste Zeile: Laos. Darunter: Gesellschaftsstruktur? Politische Situation? Kulturelle Besonderheiten?
Einige Minuten starrte er auf das Geschriebene, dann riss er das Blatt ab und zerknüllte es. Er war ahnungslos, was für seine Suche nach Lea wirklich von Bedeutung war. Ehe er einen neuen Ansatz zu Papier bringen konnte, schellte die Türglocke. Frank sah auf die Uhr. Er konnte sich
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