Die Steinernen Drachen (German Edition)
die Tür so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Im Flur war es beängstigend still. Das Restlicht des Tages fiel durch ein Fenster am anderen Ende der Diele und reichte aus, um die Konturen der Möbel im Gang zu erkennen. Frank rief Kreutzmanns Namen. Keine Antwort. Er schritt mit zittrigen Knien den Flur entlang, von dem rechts und links je zwei Türen abgingen. Eine davon stand offen und gewährte ihm einen Blick ins Wohnzimmer. Was er im Halbdunkel sah, entsprach dem Einrichtungsstil eines Junggesellen und erinnerte ihn an seine eigene Behausung. Die zweite Tür führte in die Küche. Als er sie vorsichtig öffnete, fuhr er durch ein lautes Geräusch zusammen. Drei heftige Herzschläge später wusste er, dass es die Kaffeemaschine war. Aus dem Gerät verpuffte eine Dampfwolke und signalisierte, dass das Wasser durchgelaufen war. Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee strömte ihm in die Nase. Er knipste das Licht an, ging hinüber zur Küchenzeile und schaltete die Maschine aus. Seine Hand zitterte. Ein Schweißtropfen lief ihm über die Nase und landete auf dem PVC-Boden.
Wieder auf dem Gang, nahm er sich die Türen auf der anderen Seite vor. Auch im Schlafzimmer war niemand. Das Bett war zerwühlt und die Luft roch verbraucht und muffig. Alles hier machte den Eindruck, dass Kreutzmann erst vor kurzem aufgestanden war. Nicht ungewöhnlich, nachmittags zu schlafen, wenn man Nachtschicht in der Druckerei hatte.
Sein Herz hämmerte hart, so dass es beinahe schmerzte, als er die Badezimmertür öffnete. Der restliche Wodka, der seinen Kopf noch vernebelte, verflüchtigte sich binnen Nanosekunden. Angestrahlt vom matten, gelblichen Schein einer Deckenleuchte, hing Kreutzmann über der Badewanne. Um seinen Hals war mehrmals eine Wäscheleine gewickelt, die an der oberen Halterung der Brausenstange befestigt war. Seine Hände waren mit demselben Strick auf dem Rücken gefesselt. Sein Gesicht war blau angelaufen, seine Augäpfel weit aus den Augenhöhlen gequollen. Er sah Frank direkt an, dann gab er ein Röcheln von sich. Dieser wimmernde Laut erschreckte ihn noch mehr als die abscheuliche Szenerie, die sich ihm bot.
Er löste sich aus seiner Starre und sprang in die Badewanne. Es kostete ihn immense Kraft, den strangulierten Mann hochzuheben, ohne überhaupt zu wissen, ob diese Aktion Sinn machte. Der Strick war so eng um Stefans Hals gezogen, dass er kaum Luft bekam. Kreutzmann blutete aus mehreren Wunden am Kopf. Durch das Blut war die Badewanne rutschig geworden und er hatte große Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. Er sah sich im Badezimmer um und suchte fieberhaft nach einem Gegenstand mit dem er die Wäscheleine durchtrennen konnte. Kreutzmanns Körper wurde mit jeder Sekunde schwerer. Ein erneutes schauriges Röcheln veranlasste ihn, nach oben zu schauen. Stefan erweckte den Eindruck, als wolle er etwas sagen. Er brachte sein Ohr möglichst nahe an die blutig geschlagenen Lippen. Ein Wispern quoll aus Stefans Mund. Er verstand kein Wort, wusste nur, dass Kreutzmann jeden Augenblick tot sein würde. Diese Erkenntnis riss ein abgrundtiefes Loch in seinen Verstand.
Seine letzte Energie wandte der sterbende Mann dafür auf, das Gesagte zu wiederholen. „Lea wollte Rache ... den Tätowierer ... nichts gesagt ...“
Waren das Kreutzmanns letzte Worte? Worte, die für ihn so wichtig waren, dass er die letzten Kräfte seiner Existenz dafür verschwendete, ihm das mitzuteilen? Das Gestammel ergaben keinen Sinn. Lea wollte Rache ... den Tätowierer ... nichts gesagt.
Er löste den Griff und verlor auf dem blutigen Untergrund seinen Halt. Mit einem kläglichen Stöhnen glitt er endgültig und kraftlos in die Wanne. Über ihm baumelte der Tote.
Er war zu erschöpft, um über diese makabere Situation nachdenken zu können, er wollte nur noch schlafen oder sterben.
Lea wollte Rache ... den Tätowierer ... nichts gesagt. Was wollte ihm Kreutzmann damit sagen?
Nach fünf Minuten schaffte er es aus der Wanne zu kriechen. Hemd und Hose waren mit Blut besudelt. Auf allen Vieren schleppte er sich aus dem Bad und schlug die Tür hinter sich zu. Er konnte den Anblick des Toten nicht mehr ertragen. Im Gang mühte er sich auf die Beine und wankte zum Telefon. Er wählte den Notruf, aber unterbrach die Verbindung wieder, ehe er ein Amt bekam. Entsetzt sah er an sich hinunter. Überall war Blut. Vom Badezimmer quer über den Gang zog sich eine purpurne Spur. Man würde ihn verhaften. Er griff in seine
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