Die Steinernen Drachen (German Edition)
Trubel des Unfallorts weg zu sein, begann er zu rennen. Die nassen Kleider hingen schwer an ihm. Der Schlamm bildete langsam eine harte Kruste und er hatte plötzlich Angst, dass der Dreck an seinem Körper zu einer stabilen Betonschale trocknen würde.
Bei jedem Schritt explodierte seine lädierte Rippe in einen stechenden Schmerz und trieb ihm nach wenigen Metern den Schweiß aus den Poren. Ungeachtet der Behinderung, rannte er weiter den Fluss entlang. Bald stank ihm das Klärwerk entgegen, das direkt an der Rems lag. Der beißende Geruch, der ihm anhaftete, wurde durch die Kläranlage noch übertroffen. Wäre da nicht der hämmernde Schmerz gewesen, hätte er darüber gelacht. Er passierte die großen, runden Klärbecken. Der Mond schimmerte grünlich auf der dicken Schaumschicht, die auf der Oberfläche schwamm. Auf der anderen Flussseite leuchtete ihm das hell beleuchtete Werksgelände des Kettensägenherstellers entgegen, der dort auf einen halben Kilometer Länge die komplette Uferseite beanspruchte. Vor dem Fabrikkomplex bog er auf den Steg ein, der über den Fluss führte und dessen Holzbohlen unter seinen schweren Schritten ächzten. Der danach folgende steile Anstieg nach Neustadt zwang ihn mit dem Laufen innezuhalten. Schwer atmend quälte er sich mit müdem Schritt den Berg hinauf, wankte durch den alten Ortskern, in dem spät nachts eine unheimliche Stille herrschte. Die engen Gassen waren dunkel. Die Fachwerkhäuser beugten ihre freigelegten, rissigen Holzbalken wie mahnende Gebeine über ihn und verdeckten den Blick auf den mondhellen Nachthimmel.
Keuchend erreichte er die Hauptstraße. Tausende von Faltern flatterten um die Straßenlaternen, die ringsum alles gelb färbten. Die Hitze des Tages staute sich zwischen den Häusern und raubte ihm den Atem. Benommen lehnte er sich an den Mast der Fußgängerampel und lechzte nach Sauerstoff. Aus seinen antrocknenden Klamotten strömte ein bestialischer Gestank. Die Rems war in diesem Sommer zur Kloake geworden.
Erst als er vor der Eingangstür zu seinem Appartement stand, tastete er seine Hosentaschen ab. Schlüsselbund und Geldbeutel waren zu seiner Erleichterung noch da. Selbst der Reisepass, den er vor seiner Fahrt in die hintere Hosentasche gesteckt und dann vergessen hatte, hatte den unfreiwilligen Badeausflug überlebte. Zwar sah er mitgenommen aus, war aber noch lesbar. Nur sein Handy
war mit dem Auto ersoffen.
Er betrat seine Wohnung, nicht ohne im Treppenhaus eine deutliche Dreckspur zu hinterlassen. Sofort beschlich ihn das Gefühl, dass jemand hier gewesen war. Instinktiv nahm er eine angespannte, abwehrende Haltung ein, schaltete das Licht im Flur an und horchte in die Stille. Nichts rührte sich. Leise schritt er den Gang entlang und lugte um die Ecke. Die Küche war leer. Der Schreibblock lag nicht mehr so auf dem Tisch, wie er ihn hingelegt hatte. Er nahm ihn hoch und blätterte ihn durch. Die Zeichnung des Drachen fehlte.
Wütend feuerte er ihn in die Ecke und hetzte ins Schlafzimmer. Ungeachtet seiner schmutzigen Finger riss er die Matratze hoch. Das vergilbte Blatt Papier, das er von Ralf Wiegand bekommen hatte, lag unberührt auf dem Gitterrost. Die Reisetasche, die er gestern unters Bett geschoben hatte, war durchwühlt worden.
„Stümper“, flüsterte er vor sich hin. Ein müdes Lächeln flog über seine Mundwinkel, dabei bröckelte getrockneter Flussschlamm von seinen Wangen. Beim Gang durch alle Zimmer stellte er sicher, dass niemand mehr hier war. Dann rief er Chin an. Diesmal schien sie schon geschlafen zu haben, denn sie wirkte im ersten Augenblick orientierungslos. Vielleicht lag es auch daran, dass er wirres Zeug laberte und eine Weile brauchte, bis er die Ereignisse in die richtige Reihenfolge gebracht hatte. Vor seinem inneren Auge sah er, wie die Asiatin aus dem Bett sprang, als sie das Geschehene begriffen hatte. Ihr Angebot, ihn sofort abzuholen, begrüßte er erleichtert.
Er hatte keine Ahnung, wie lange die Feuerwehr für die Bergung seines Wagens brauchte. Doch sobald das Kennzeichen aus der braunen Brühe auftauchen würde, wusste die Polizei, wer mit seinem Fahrzeug in den Fluss gestürzt war. Chin empfahl er über die Schnellstraße nach Neustadt zu fahren, da die Uferstraße durch seinen Unfall blockiert war. Die Tatsache, dass sein Appartement durchsucht worden war und jemand die Skizze des Drachens mitgenommen hatte, verschwieg er. Als er sicher war, dass sie sonst alles verstanden hatte, legte er auf
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