Die Steinernen Drachen (German Edition)
aus dem Sinn
13. September 2002
Der Regen hatte eingesetzt und brachte den Herbst endgültig ins Land. Seit sechs Tagen goss es ununterbrochen. Seit sechs Tagen hatte er nichts mehr von Lea gehört. So gesehen passte das Wetter zu seiner Gemütslage. Die Chinesen aus dem Mandarin erzählten ihm bei jedem seiner unzähligen Anrufe, dass Lea nicht mehr dort arbeiten würde. Er war zweimal im Restaurant gewesen, um nach ihr zu sehen, wurde aber jedes Mal schnell wieder verscheucht, als ersichtlich wurde, dass er nichts essen wollte. Immer, wenn er Zeit hatte, postierte er sich vor dem Restaurant. In seinem Wagen sitzend, starrte er auf den Eingang. Eine Aktion, die ihm nichts außer einem steifen Rücken und maßlose Enttäuschung eingebracht hatte.
Trotz des Regens suchte er mehrmals die Plätze auf, an denen sie sich sonst getroffen hatten; saß schweigend in den Cafés und wartete. Nach seiner Schicht in der Bar tingelte er auf gut Glück durch die Clubs, in denen er sie vermutete. Sechs Tage schlief und aß er kaum und vergaß alle anderen Dinge um sich herum. Seine Arbeit in der Bar erledigte er lustlos und matt. Gäste beschwerten sich, aber zu seinem Glück ließ sich Olaf die Woche über nicht blicken. Die Chinesen aus dem Mandarin kamen an zwei Abenden in die Bar, würdigten ihn keines Blickes und besoffen sich mit Wodka. Lea war nicht dabei. Sylvia machte für ihn die Kasse, weil er sich nicht aufs Geldzählen konzentrieren konnte. Lea blieb verschwunden!
Am letzten Donnerstag, nachts um drei, hatte er in angetrunkenem Zustand bei Ilka angerufen. Elf mal hatte er es klingeln lassen, dann wieder aufgelegt. Danach hatte er es bei Bettina probiert, aber auch da war niemand ans Telefon gegangen. Kurz hatte er sich gefragt, wo sich die beiden Frauen spät in der Nacht noch herumtrieben, aber keine plausible Antwort darauf gefunden. Schließlich war er drauf und dran gewesen, einfach aus Spaß Beate anzurufen. Er hatte bereits ihre Nummer gewählt, sich im letzten Moment dagegen entschieden und aufgelegt, bevor die Verbindung stand. Nicht der Bedenken wegen, ihr Mann könnte ans Telefon gehen, denn so etwas störte ihn prinzipiell nicht, verschaffte ihm aber auch keine Befriedigung. Von Selbstmitleid zerfressen, war er unter die Bettdecke gekrochen, jedoch der Kummer um Leas Verschwinden ließ ihn auch diese Nacht wenig Schlaf finden.
So kam der Freitag, der genau so trist und regnerisch wie die sechs vorangegangen Tage war, seit Lea aus seinem Leben verschwunden war. Doch als er an diesem Vormittag aus dem Bett kroch, hatte er seit einer Woche zum ersten Mal das Gefühl, wieder atmen zu können. Die Depression der letzten 144 Stunden hatten ihn bis jetzt gehindert klar zu denken und er hatte sich gefühlt, als würde er das Jammertal durchschreiten. Nun blähte frischer Wind die Segel seines inneren Antriebs auf und blies ihn aus dem düsteren, seichten Sund der gedrückten Stimmung hinaus aufs offene Meer. Die Flaute war vorüber und es war an der Zeit neue Ufer anzusteuern.
Plötzlich war er voller Energie und Tatendrang. Er wollte sich nicht länger unter die Knute seiner Gefühle stellen, sondern sich von den Seelenschmerzen befreien, die ihm diese verschmähte Liebe eingebracht hatte. Er wollte Lea vergessen!
Der Vorsatz hielt bis nach der zweiten Tasse Kaffee an. In seinen Eingeweiden kollabierte schlagartig ein Universum, das in ein Schwarzes Loch gesogen wurde. Mit der Leere kamen die quälenden Emotionen zurück, die ihn schon die letzten Tage begleitet hatten. Doch sein Verstand blieb klar und hüllte sich nicht wieder in diesen Kokon von Ignoranz gegen äußere Einflüsse.
Augenscheinlich blieb ihm diese Frau noch eine Weile erhalten und selbst, wenn er sie physisch nicht mehr antreffen sollte, lebte sie weiter in seinem Kopf. Sie nahm einen Teil seines Gehirns für sich in Anspruch und wenn ihr danach war, warf sie ihr liebliches Antlitz von innen an seine Netzhaut und er sah ihr Lächeln, ihre schwarzen Mandelaugen und ihren verführerischen Körper. Er hoffte, dies würde ihn auf Dauer nicht verrückt machen.
In den darauffolgenden Wochen erlosch das Bild von Lea mehr und mehr in seinem Gedächtnis, bis nur noch ein verschwommener Schatten blieb. Mit der Dauer verflüchtigte sich auch ihr Geruch, der in den Kissen seines Bettes saß und den er später nur noch in seiner Erinnerung zu riechen glaubte. So verschwanden Schritt für
Schritt die Dinge, die sie zurückgelassen hatte. Der Abfluss
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