Die steinernen Schatten - Das Marsprojekt ; 4
Frau, die gleich in Tränen ausbricht! Doch dann hatte es sie erst recht fertiggemacht, wie cool Ronnys Mutter geblieben war. Ein bisschen blass um die Nase, das war alles. Da hatte Ariana irgendwas total Schwachsinniges gemurmelt und gehen müssen, raus, nur weg von allem.
Jedenfalls war jetzt klar, woher Ronny diese Nerven hatte, die belastbar wie Titanfaserkabel waren, wenn es drauf ankam.
Ronny. Der spurlos verschwunden war.
Sie hätte nie für möglich gehalten, wie schwer sie die Vorstellung traf, ihn womöglich nie wiederzusehen. Ronny? Sie hatte sich nie groß Gedanken um Ronny Penderton gemacht. Er war eben da gewesen, genau wie die anderen, eine Art nerviger kleiner Bruder, der einem auf den Keks ging mit seinen Marotten und blöden Witzen und seinem Flugzeugfimmel . . .
Ronny! Ihr einziger Verbündeter gegen die Faggan-Geschwister, die immer zusammenhielten, ob bei Sonnensturm oder Meteoritenschlag!
Sie musste mit jemandem reden, merkte sie, als sie zum dritten Mal auf derselben Gangkreuzung stand und sich nicht entscheiden konnte, wohin. Reden, ja. Aber nicht mit Dad. Dad hatte alle Hände voll zu tun und außerdem . . . Nein.
Ihre Beine setzten sich in Bewegung, von selbst beinahe, schlugen einen Weg ein, den sie schon sehr, sehr oft gegangen war. Noch ehe sie sich dessen bewusst wurde, stand sie schon vor der Tür von Kim Seyong, dem Mann, der sie seit ihrem fünften Geburtstag in Jiu-Jitsu unterrichtete.
Sie hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu beben, als sie auf den Klingelknopf drückte. Erstaunlich, dass ihre Hand so ruhig zu sein schien, reglos beinahe.
Nichts geschah. Klar. Wie kam sie auf die Idee, dass der Techniker um diese Zeit zu Hause war? Natürlich war er unterwegs, arbeitete an irgendeinem der zahllosen Projekte . . .
Die Tür wurde aufgerissen, gerade als sie sich zum Gehen wenden wollte.
»Ariana?« Der untersetzte Mann, der in Los Angeles geboren war und dessen Familie aus Korea stammte, hob verwundert die dünnen Augenbrauen. »Waren wir verabredet?«
»Nein.« Ariana schüttelte den Kopf. »Ich dachte nur . . . das heißt, eigentlich dachte ich nicht, ich wollte nur . . . ähm . . .«
»Ariana!«, unterbrach Kim Seyong sie, mit einem nachsichtigen Lächeln und in genau dem Ton, den er während ihrer Trainingsstunden immer gebrauchte. »Atme!«
Wie oft hatte er das zu ihr gesagt? Eine Million Mal. Ganz automatisch richtete Ariana ihre Aufmerksamkeit auf ihre Nase, spürte die winzige Stelle an der Innenseite der Nasenlöcher, an der der Atem vorbeistrich, als sie ihn langsam aus ihren Lungen entweichen ließ. Mit ihm schwand ein wenig von ihrer Anspannung, ihrer Angst, ihres Entsetzens.
Sie ließ ihre Lungen sich wieder füllen, atmete wieder aus, wieder ein und sagte schließlich: »Danke, Mister Kim.«
Er trat beiseite. »Komm herein.«
Sie gingen in das große Wohnzimmer, das Kim Seyong zu einem Trainingsraum umfunktioniert hatte. Sorgsam geflochtene Matten bedeckten den Boden und wie immer hing ein eigentümlicher Geruch in der Luft, von dem Kim noch nie verraten hatte, was es war: ein Duft nach fremdartigen Hölzern und Gewürzen, nach Weite und vor allem …nach Ruhe. Das, was sie gesucht hatte.
Er bot ihr mit einer Geste an, sich zu setzen, und als sie einander dann wie zu einer Übungsstunde gegenübersaßen, sagte er: »Erzähl.«
Ich kann nicht, dachte Ariana, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Doch dann brach es aus ihr heraus wie von selbst, erzählte sich wie von selbst, alles. Wie sie Elinn behandelt hatten und dass diese dann alleine aufgebrochen war. Von dem verhängnisvollen Stoß, den sie Urs gegeben hatte. Urs! Und dass nun sogar Ronny spurlos verschwunden war.
Sie starrte zu Boden, versunken in die Betrachtung des Flechtwerks der Matte, auf der sie saß. »Sie wissen ja, dass ich schon lange darüber nachdenke, zur Erde zu gehen. Die letzten Jahre bin ich meinem Dad in den Ohren gelegen, er soll mich zu meiner Mutter schicken, damit ich in eine richtige Schule gehen kann mit anderen zusammen und so weiter . . . Ich war es immer, die den Mars verlassen wollte, verstehen Sie? Und jetzt bin ich die Einzige, die noch da ist!«
Sie erschrak selber, als sie sich das sagen hörte. Es auszusprechen, schien es wahrer zu machen, als es nur zu wissen und zu denken. Sie war das letzte, das einzige verbliebene Marskind. Ein über alle Maßen schrecklicher Gedanke.
Kim Seyong nickte, wie immer mit reglosem Gesicht. »Und wie fühlst du dich
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