DIE STERBENDE ERDE
auf die schnellere Mitte. »Ich sehe Straßen in Ampridatvir wie Ströme dahinfließen«, brummte er.
»Und ihr nennt mich einen Dämon! Solltet ihr nicht erst vor eurer eigenen Haustür kehren?«
»Es hat nichts mit Magie zu tun«, versicherte ihm der Jüngere. »Es gehört zur Stadt.«
In regelmäßigen Abständen befanden sich etwa zehn Fuß hohe steinerne Bauwerke. Sie sahen aus wie Rampen, die unter die Straße führten.
»Was liegt darunter?« erkundigte sich Ulan Dhor.
Die Fischer zuckten die Achseln. »Die Türen sind verschlossen. Kein Mensch hat sie je betreten. Es heißt, sie wären das letzte Werk Rogol Domedonfors'.«
Ulan Dhor hielt mit weiteren Fragen zurück, da er die stetig wachsende Nervosität der beiden Männer bemerkte.
Unwillkürlich von ihnen angesteckt, umklammerte seine Hand den Schwertgriff.
»Niemand wohnt in diesem Teil Ampridatvirs«, flüsterte der Ältere heiser. »Er ist älter, als die Erinnerung reicht, und wird von Geistern heimgesucht.«
Die Straßen liefen zu einem zentralen Stadtplatz zusammen, die Türme fielen ringsum zurück. Das Transportband kam, wie in einen Teich fließendes Wasser, zum Halt. Hier glühte das erste künstliche Licht, das Ulan Dhor je gesehen hatte – eine strahlend helle Kugel, die von einer dünnen, gebogenen Metallsäule herabhing.
In ihrem Schein sah Ulan Dhor eine jugendliche Gestalt in grauem Umhang über den Platz laufen… Da bewegte sich etwas zwischen den Ruinen. Die Fischer holten erschrocken Luft und duckten sich. Eine leichenblasse Kreatur sprang hinaus ins Licht. Ihre Arme waren lang und verkrümmt, schmutziges Fell bedeckte ihre Beine. Riesige Augen funkelten aus einem nach oben spitz zulaufenden, fahlweißen Schädel, zwei scharfe Reißzähne hingen über die Unterlippe. Sie sprang die graugekleidete Gestalt von hinten an, packte sie, klemmte sie sich unter den Arm, dann drehte sie sich um und sah Ulan Dhor und die Fischer triumphierend an. Jetzt erst bemerkte Ulan Dhor, daß ihr Opfer eine Frau war.
Da zog er sein Schwert.
»Nein, nein!« flüsterte der Ältere flehend. »Der Gaun wird seines Weges ziehen.«
»Aber die Frau, die er angefallen hat! Wir können sie retten!«
»Der Gaun hat niemanden angefallen.« Der Fischer hielt ihn am Arm zurück.
»Seid Ihr denn blind, Mann?« rief Ulan Dhor.
»In Ampridatvir gibt es nur die Grünen«, versicherte ihm der Jüngere. »Bleibt hier!«
Ulan Dhor zögerte. War die Frau in Grau dann etwa ein Geist? Wenn ja, weshalb sagten die Fischer es nicht?
Mit unverschämter Langsamkeit stapfte der Gaun auf ein langgestrecktes Bauwerk mit dunklen, halb eingestürzten Torbögen zu.
Ulan Dhor rannte über den weißen Platz der alten Stadt.
Das Ungeheuer drehte sich um. Es streckte einen mächtigen Arm von Manneslänge aus, der in weißbepelzten, gedrungene Pranken auslief. Ulan Dhor schwang das Schwert in weitem Bogen – und der Unterarm des Gauns hing nur noch an einer Sehne und einem Stück halbgespaltenen Knochen.
Schnell sprang Ulan Dhor zurück, um dem wie in Fontänen spritzenden Blut, mehr aber noch dem anderen Arm auszuweichen. Noch einmal holte er mit der Klinge aus, hieb sie herab – und der zweite Unterarm baumelte bis fast zum Boden. Blitzschnell sprang er nun nah heran und stieß der Bestie die Schwertspitze durch ein Auge ins Gehirn.
Die gräßliche Kreatur hüpfte mit den letzten Atemzügen in Bocksprüngen über den Platz und zuckte und wälzte sich schließlich im Todeskampf auf dem Boden.
Ulan Dhor keuchte. Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Die junge Frau, die der Gaun hatte fallen lassen, blickte mit schreckgeweiteten Augen geradeaus und versuchte zitternd auf die Beine zu kommen. Er streckte den Arm aus, um ihr aufzuhelfen, und bemerkte, daß sie schlank und jung war, mit blondem Haar, das in weichen Wellen über die Ohren bis in Kinnhöhe fiel. Sie hat ein sympathisches Gesicht, dachte Ulan Dhor, feingeschnitten, unschuldig und mit offenem Blick.
Sie schien ihn nicht zu bemerken, sondern hüllte sich, halb von ihm abgewandt, in ihren grauen Umhang. Ulan Dhor befürchtete schon, daß der Schock ihr den Verstand geraubt habe. Er trat näher an sie heran und blickte ihr ins Gesicht.
»Seid Ihr wohlauf? Hat das Untier Euch etwas angetan?«
Verwirrung, ja Schrecken spiegelte sich auf ihrem Gesicht, fast als hielte sie Ulan Dhor ebenfalls für einen Gaun. Ihr Blick streifte seinen grünen Umhang und wanderte schnell zu seinem Gesicht und dem
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