DIE STERBENDE ERDE
und erschütterte gemeinsam mit dem von Pansius Tempel die Luft der Stadt.
Langsam ließ Ulan Dhor das Boot dahintreiben und blickte in die Tiefe.
»Seht!« rief Elai aufgeregt und faßte ihn am Arm. Im Schein unzähliger Fackeln und des vereinzelten künstlichen Straßenlichts drängten sich die Menschen durch die Stadt, Grüne und Graue gleichermaßen. Sie alle hatte das schrille Heulen der Alarmhörner in Panik versetzt und auf die Straße gelockt.
Elai holte hörbar Luft. »Ulan Dhor! Ich sehe sie! Ich sehe sie! Die Männer in Grün! Ist es möglich … Waren sie immer…«
»Die Gehirnsperre ist nicht mehr«, erklärte ihr Ulan Dhor
»Und nicht nur bei Euch. Auch dort unten sehen sie einander…«
Zum erstenmal seit undenklicher Zeit wurde den feindlichen Parteien die Anwesenheit der anderen bewußt. Die Gesichter der Menschen waren vor Schrecken verzerrt.
Im Schein der Lampen sah Ulan Dhor, wie sie voll Grauen voreinander zurückschreckten, und er hörte ihre Schreie und Rufe: »Dämonen! – Dämonen! – Graues Gespenst! – Grüner Teufel!«
Tausende von Entsetzen erfüllte Bürger wichen einander aus, beschimpften und verfluchten einander, brüllten vor Furcht und Haß. Sie sind alle wahnsinnig, dachte Ulan Dhor, von krankem Gehirn.
Wie auf ein lautloses Signal hin begannen die Tätlichkeiten.
Die grauenvollen und haßerfüllten Schreie ließen sein Blut stocken. Elai wandte sich schluchzend ab. Schrecklich erging es Männern, Frauen und Kindern – egal, wer das Opfer war, solange es die gegnerische Farbe trug.
Ein Knurren am Rand des Mobs übertönte das Kampfgebrüll und die Wutschreie. Ein zufriedenes Knurren war es. Etwa ein Dutzend Gauns stapfte herbei und ragte mit ihrer Größe weit über Graue und Grüne hinaus. Sie packten, ohne Rücksicht auf die Farbe, wen sie erwischten, und zerrissen ihn. Der aus dem Wahnsinn geborene Haß wich der Furcht. Grüne und Graue vergaßen ihren Kampf und rannten heim, bis nur noch die Gauns durch die Straßen streiften.
Ulan Dhor stöhnte.
Er schlug die Hand vors Gesicht. »Bin ich an diesem Gemetzel schuld? Hab ich es herbeigeführt?«
»Früher oder später wäre es ganz sicher dazu gekommen«, murmelte Elai dumpf. »Außer die Erde wäre zuvor untergegangen…«
Ulan Dhor hob die beiden Tafeln auf. »Hier habe ich, was ich suchte – Rogol Domedonfors' Hinterlassenschaft. Tausende von Meilen zogen sie mich über den Melantein. Und jetzt, da ich sie in Händen halte, sind sie nicht mehr als wertlose Scherben…«
Das Boot stieg höher, bis die Lichter von Ampridatvir sich nur noch wie bleiche Kristalle im Sternenschein abzeichneten.
Im Glühen der Armaturentafel drückte Ulan Dhor die Ränder der beiden Tafeln zusammen. Das Gekritzel verschmolz miteinander, wurde zu sichtbaren Lettern, zur Botschaft des längst verstorbenen, mächtigen Magiers.
Treulose Kinder – Rogol Domedonfors stirbt und lebt so für immer und alle Zeit in Ampridatvir, das er liebte und dem er diente! Wenn Klugheit und guter Wille wieder Ordnung in der Stadt schaffen oder wenn Blut und Stahl die Dummheit gelenkter Gläubigkeit und Leidenschaft besiegen und alle außer den Zähesten tot sind – dann erst werden diese Tafeln gelesen werden können. Und ich sage zu jenem, der sie liest: Begebt Euch zum Turm mit der gelben Kuppel, dem Turm des Schicksals, und laßt Euch hinauf zum obersten Stockwerk tragen. Zeigt dort dem linken Auge Rogol Domedonfors' Rot, dem rechten Auge Gelb, und dann beiden Augen Blau. Tut es, rate ich Euch, und teilt die Macht Rogol Domedonfors'.
»Wo ist dieser Turm des Schicksals?« fragte Ulan Dhor Elai.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich kenne Rodeils Turm, den Roten Turm, den Turm des kreischenden Gespensts, den Trompetenturm, den Vogelturm und den Turm der Gauns –
aber von einem Turm des Schicksals habe ich nie etwas gehört.«
»Welcher Turm hat eine gelbe Kuppel?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann müssen wir ihn bei Tageslicht suchen.«
»Morgen früh«, murmelte sie schläfrig.
»Ja, am Morgen«, erwiderte Ulan Dhor und strich sanft über ihr seidiges Blondhaar.
Als die Sonne aufging, flogen sie über die Stadt und stellten fest, daß die Bürger schon vor ihnen aufgestanden waren und an nichts anderes als Mord und Totschlag dachten.
Es war keine so wilde unüberlegte Schlacht wie nachts zuvor, sondern ein planmäßiges Gemetzel. Die Männer hatten sich zu Gruppen zusammengetan, die Einzelgängern oder kleineren Gruppen der
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